Er wollte gut sein; er wollte wieder sein, wie er war, eh' Aennchen krank geworden ist. Er streckte der Ein¬ tretenden die Hand entgegen. Sie sah ihn und schrack zusammen. Sie war so bleich wie das todte Aennchen, selbst ihre sonst so blühenden Lippen waren bleich. Der Hals, die schönen Arme, die weichen Hände waren bleich; das sonst so glänzende Auge war matt. All ihr Leben hatte sich in ihr tiefstes Herz zurückgezogen und weinte da um ihr gestorben Kind. Als sie ihn sah, stieß ein Zittern durch ihren ganzen Körper. Mit zwei Schritten stand sie zwischen der Leiche und ihm. Als wollte sie das Kind noch jetzt vor ihm schützen. Und doch nicht so. Weder Furcht noch Angst bebte um den kleinen Mund. Er war fest geschlossen. Ein ander Gefühl war's, was die schöngewölbten Augen¬ brauen drängend herabfaltete und aus den sonst so sanften Augen flammte. Er sah, es war nicht mehr das Weib, das die schmelzenden Friedensworte ge¬ sprochen; die war mit ihrem Kinde gestorben in dieser schrecklichen Nacht. Das Weib, das vor ihm stand, war nicht mehr die Mutter, die zu ihm hinhoffte, deren Kind er retten konnte; es war die Mutter, der er das Kind getödtet. Eine Mutter, die den Mörder fortwies aus der heiligen Nähe des Kindes. Ein bleichschreckender Engel, der den befleckenden Berührer fortzürnt von seinem Heiligthum. Er sprach -- o hätt' er gestern gesprochen! Gestern hatte sie sich nach dem
Er wollte gut ſein; er wollte wieder ſein, wie er war, eh' Aennchen krank geworden iſt. Er ſtreckte der Ein¬ tretenden die Hand entgegen. Sie ſah ihn und ſchrack zuſammen. Sie war ſo bleich wie das todte Aennchen, ſelbſt ihre ſonſt ſo blühenden Lippen waren bleich. Der Hals, die ſchönen Arme, die weichen Hände waren bleich; das ſonſt ſo glänzende Auge war matt. All ihr Leben hatte ſich in ihr tiefſtes Herz zurückgezogen und weinte da um ihr geſtorben Kind. Als ſie ihn ſah, ſtieß ein Zittern durch ihren ganzen Körper. Mit zwei Schritten ſtand ſie zwiſchen der Leiche und ihm. Als wollte ſie das Kind noch jetzt vor ihm ſchützen. Und doch nicht ſo. Weder Furcht noch Angſt bebte um den kleinen Mund. Er war feſt geſchloſſen. Ein ander Gefühl war's, was die ſchöngewölbten Augen¬ brauen drängend herabfaltete und aus den ſonſt ſo ſanften Augen flammte. Er ſah, es war nicht mehr das Weib, das die ſchmelzenden Friedensworte ge¬ ſprochen; die war mit ihrem Kinde geſtorben in dieſer ſchrecklichen Nacht. Das Weib, das vor ihm ſtand, war nicht mehr die Mutter, die zu ihm hinhoffte, deren Kind er retten konnte; es war die Mutter, der er das Kind getödtet. Eine Mutter, die den Mörder fortwies aus der heiligen Nähe des Kindes. Ein bleichſchreckender Engel, der den befleckenden Berührer fortzürnt von ſeinem Heiligthum. Er ſprach — o hätt' er geſtern geſprochen! Geſtern hatte ſie ſich nach dem
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Er wollte gut ſein; er wollte wieder ſein, wie er war,
eh' Aennchen krank geworden iſt. Er ſtreckte der Ein¬
tretenden die Hand entgegen. Sie ſah ihn und ſchrack
zuſammen. Sie war ſo bleich wie das todte Aennchen,
ſelbſt ihre ſonſt ſo blühenden Lippen waren bleich.
Der Hals, die ſchönen Arme, die weichen Hände waren
bleich; das ſonſt ſo glänzende Auge war matt. All
ihr Leben hatte ſich in ihr tiefſtes Herz zurückgezogen
und weinte da um ihr geſtorben Kind. Als ſie ihn
ſah, ſtieß ein Zittern durch ihren ganzen Körper. Mit
zwei Schritten ſtand ſie zwiſchen der Leiche und ihm.
Als wollte ſie das Kind noch jetzt vor ihm ſchützen.
Und doch nicht ſo. Weder Furcht noch Angſt bebte
um den kleinen Mund. Er war feſt geſchloſſen. Ein
ander Gefühl war's, was die ſchöngewölbten Augen¬
brauen drängend herabfaltete und aus den ſonſt ſo
ſanften Augen flammte. Er ſah, es war nicht mehr
das Weib, das die ſchmelzenden Friedensworte ge¬
ſprochen; die war mit ihrem Kinde geſtorben in dieſer
ſchrecklichen Nacht. Das Weib, das vor ihm ſtand,
war nicht mehr die Mutter, die zu ihm hinhoffte,
deren Kind er retten konnte; es war die Mutter, der
er das Kind getödtet. Eine Mutter, die den Mörder
fortwies aus der heiligen Nähe des Kindes. Ein
bleichſchreckender Engel, der den befleckenden Berührer
fortzürnt von ſeinem Heiligthum. Er ſprach — o hätt'
er geſtern geſprochen! Geſtern hatte ſie ſich nach dem
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/181>, abgerufen am 04.12.2024.
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