Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

lonius kam, vom Bruder zurück, wieder vorüber. Er
konnte das Mädchen noch gehen sehn. Aber Nichts
zeigte sich in seinem Gesichte, was ihrer nur halb ver¬
standenen Furcht Recht gegeben hätte. Und so sah
auch Fritz Nettenmair, der dem Bruder aus dem Ver¬
steck der Hinterthür nachblickte, auf ihrem Antlitz nicht
soviel, als er gefürchtet, zu sehen.

Das Kind sagt: du hast ihm was gethan; die Anne
sagt: du hassest ihn, du läßt ihn nicht froh werden.
Und sein traurig Nachblicken -- bald ertappt sie ihn
selbst unbemerkt dabei -- sagt dasselbe. Wie ein Blitz
und mit freudigem Lichte zuckte es dazwischen, er sah
der Anne nicht traurig nach; und auch nicht freudig,
nein! gleichgültig, wie jedem Andern sonst. Ihr wird
gesagt: du hassest ihn; du hast ihn beleidigt und du
willst ihn kränken, und sie hat geglaubt, er hasse sie,
er will sie kränken. Und hat er sie nicht gekränkt?
Sie blickt in die lang vergangene Zeit zurück, wo er sie
beleidigte. Sie hat ihm schon lang nicht mehr darum
gezürnt, sie hat nur neue Beleidigung gefürchtet. Kann
sie jetzt noch darum zürnen, wo er ein so Anderer ist;
wo sie selbst weiß, er beleidigt sie nicht; wo die Leute
sagen, und sein trauriger Blick: sie beleidige ihn? Und
wie sie zurücksinnt, eifrig, so eifrig, daß die Musik
wieder um sie klingt, und sie wieder unter den Ge¬
spielinnen sitzt, im weißen Kleid mit den Rosaschleifen,
im Schießhaus auf der Bank den Fenstern entlang,

lonius kam, vom Bruder zurück, wieder vorüber. Er
konnte das Mädchen noch gehen ſehn. Aber Nichts
zeigte ſich in ſeinem Geſichte, was ihrer nur halb ver¬
ſtandenen Furcht Recht gegeben hätte. Und ſo ſah
auch Fritz Nettenmair, der dem Bruder aus dem Ver¬
ſteck der Hinterthür nachblickte, auf ihrem Antlitz nicht
ſoviel, als er gefürchtet, zu ſehen.

Das Kind ſagt: du haſt ihm was gethan; die Anne
ſagt: du haſſeſt ihn, du läßt ihn nicht froh werden.
Und ſein traurig Nachblicken — bald ertappt ſie ihn
ſelbſt unbemerkt dabei — ſagt daſſelbe. Wie ein Blitz
und mit freudigem Lichte zuckte es dazwiſchen, er ſah
der Anne nicht traurig nach; und auch nicht freudig,
nein! gleichgültig, wie jedem Andern ſonſt. Ihr wird
geſagt: du haſſeſt ihn; du haſt ihn beleidigt und du
willſt ihn kränken, und ſie hat geglaubt, er haſſe ſie,
er will ſie kränken. Und hat er ſie nicht gekränkt?
Sie blickt in die lang vergangene Zeit zurück, wo er ſie
beleidigte. Sie hat ihm ſchon lang nicht mehr darum
gezürnt, ſie hat nur neue Beleidigung gefürchtet. Kann
ſie jetzt noch darum zürnen, wo er ein ſo Anderer iſt;
wo ſie ſelbſt weiß, er beleidigt ſie nicht; wo die Leute
ſagen, und ſein trauriger Blick: ſie beleidige ihn? Und
wie ſie zurückſinnt, eifrig, ſo eifrig, daß die Muſik
wieder um ſie klingt, und ſie wieder unter den Ge¬
ſpielinnen ſitzt, im weißen Kleid mit den Roſaſchleifen,
im Schießhaus auf der Bank den Fenſtern entlang,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0105" n="96"/>
lonius kam, vom Bruder zurück, wieder vorüber. Er<lb/>
konnte das Mädchen noch gehen &#x017F;ehn. Aber Nichts<lb/>
zeigte &#x017F;ich in &#x017F;einem Ge&#x017F;ichte, was ihrer nur halb ver¬<lb/>
&#x017F;tandenen Furcht Recht gegeben hätte. Und &#x017F;o &#x017F;ah<lb/>
auch Fritz Nettenmair, der dem Bruder aus dem Ver¬<lb/>
&#x017F;teck der Hinterthür nachblickte, auf ihrem Antlitz nicht<lb/>
&#x017F;oviel, als er gefürchtet, zu &#x017F;ehen.</p><lb/>
        <p>Das Kind &#x017F;agt: du ha&#x017F;t ihm was gethan; die Anne<lb/>
&#x017F;agt: du ha&#x017F;&#x017F;e&#x017F;t ihn, du läßt ihn nicht froh werden.<lb/>
Und &#x017F;ein traurig Nachblicken &#x2014; bald ertappt &#x017F;ie ihn<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t unbemerkt dabei &#x2014; &#x017F;agt da&#x017F;&#x017F;elbe. Wie ein Blitz<lb/>
und mit freudigem Lichte zuckte es dazwi&#x017F;chen, er &#x017F;ah<lb/>
der Anne nicht traurig nach; und auch nicht freudig,<lb/>
nein! gleichgültig, wie jedem Andern &#x017F;on&#x017F;t. Ihr wird<lb/>
ge&#x017F;agt: du ha&#x017F;&#x017F;e&#x017F;t ihn; du ha&#x017F;t ihn beleidigt und du<lb/>
will&#x017F;t ihn kränken, und &#x017F;ie hat geglaubt, er ha&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ie,<lb/>
er will &#x017F;ie kränken. Und hat er &#x017F;ie nicht gekränkt?<lb/>
Sie blickt in die lang vergangene Zeit zurück, wo er &#x017F;ie<lb/>
beleidigte. Sie hat ihm &#x017F;chon lang nicht mehr darum<lb/>
gezürnt, &#x017F;ie hat nur neue Beleidigung gefürchtet. Kann<lb/>
&#x017F;ie jetzt noch darum zürnen, wo er ein &#x017F;o Anderer i&#x017F;t;<lb/>
wo &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t weiß, er beleidigt &#x017F;ie nicht; wo die Leute<lb/>
&#x017F;agen, und &#x017F;ein trauriger Blick: &#x017F;ie beleidige ihn? Und<lb/>
wie &#x017F;ie zurück&#x017F;innt, eifrig, &#x017F;o eifrig, daß die Mu&#x017F;ik<lb/>
wieder um &#x017F;ie klingt, und &#x017F;ie wieder unter den Ge¬<lb/>
&#x017F;pielinnen &#x017F;itzt, im weißen Kleid mit den Ro&#x017F;a&#x017F;chleifen,<lb/>
im Schießhaus auf der Bank den Fen&#x017F;tern entlang,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0105] lonius kam, vom Bruder zurück, wieder vorüber. Er konnte das Mädchen noch gehen ſehn. Aber Nichts zeigte ſich in ſeinem Geſichte, was ihrer nur halb ver¬ ſtandenen Furcht Recht gegeben hätte. Und ſo ſah auch Fritz Nettenmair, der dem Bruder aus dem Ver¬ ſteck der Hinterthür nachblickte, auf ihrem Antlitz nicht ſoviel, als er gefürchtet, zu ſehen. Das Kind ſagt: du haſt ihm was gethan; die Anne ſagt: du haſſeſt ihn, du läßt ihn nicht froh werden. Und ſein traurig Nachblicken — bald ertappt ſie ihn ſelbſt unbemerkt dabei — ſagt daſſelbe. Wie ein Blitz und mit freudigem Lichte zuckte es dazwiſchen, er ſah der Anne nicht traurig nach; und auch nicht freudig, nein! gleichgültig, wie jedem Andern ſonſt. Ihr wird geſagt: du haſſeſt ihn; du haſt ihn beleidigt und du willſt ihn kränken, und ſie hat geglaubt, er haſſe ſie, er will ſie kränken. Und hat er ſie nicht gekränkt? Sie blickt in die lang vergangene Zeit zurück, wo er ſie beleidigte. Sie hat ihm ſchon lang nicht mehr darum gezürnt, ſie hat nur neue Beleidigung gefürchtet. Kann ſie jetzt noch darum zürnen, wo er ein ſo Anderer iſt; wo ſie ſelbſt weiß, er beleidigt ſie nicht; wo die Leute ſagen, und ſein trauriger Blick: ſie beleidige ihn? Und wie ſie zurückſinnt, eifrig, ſo eifrig, daß die Muſik wieder um ſie klingt, und ſie wieder unter den Ge¬ ſpielinnen ſitzt, im weißen Kleid mit den Roſaſchleifen, im Schießhaus auf der Bank den Fenſtern entlang,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/105
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/105>, abgerufen am 24.11.2024.