Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.weit langsamer als vorher und mit einem Drucke auf dem Herzen, welchen sie dem ansteigenden Wetter zuschrieb, sich dem Walde näherte. Immer schwerer ward die unsichtbare Last, unter der sie keuchte, und kaum hatten sie die ersten Bäume unter ihr bergendes Dunkel genommen, als sie vor Erschöpfung fast zusammenbrechend, mit geschlossnen Augen gegen einen derselben lehnte. Ihre Hände suchten nach einem Halt und umschlangen ein daneben stehendes Birkenstämmchen, aber erschrocken riß sie die Hand zurück und die Augen wieder auf, als es unter der Berührung plötzlich nachgab und die zitternde Blätterkrone seufzend an die Erde gleiten ließ. Rasch ernüchtert sprang sie einen Schritt zurück. Das fehlte noch, -- eiferte sie in sich hinein -- daß ich es machte, wie das dumme Ding da. Auf! sagte sie und schüttelte die fremde Schwäche von sich ab, indem sie kräftig wieder vorwärts schritt, wobei sie jedoch nicht umhin konnte, einen halb ängstlichen, halb erstaunten Blick auf den geknickten Baum zurückzuwerfen, dessen Stamm, wenn auch noch jung, doch stark genug erschien, der sehnigsten Männerfaust zu widerstehen. Bin ich behext oder ist's der Baum? murmelte sie gedankenvoll vor sich hin. Das war wohl Beides nicht der Fall. Aber vor kaum fünf Minuten hatte hier ein Mann gestanden, an derselben Stelle, wo sie stand, und dieselbe junge Birke mit der Hand umschlingend, die die ihrige umschlungen weit langsamer als vorher und mit einem Drucke auf dem Herzen, welchen sie dem ansteigenden Wetter zuschrieb, sich dem Walde näherte. Immer schwerer ward die unsichtbare Last, unter der sie keuchte, und kaum hatten sie die ersten Bäume unter ihr bergendes Dunkel genommen, als sie vor Erschöpfung fast zusammenbrechend, mit geschlossnen Augen gegen einen derselben lehnte. Ihre Hände suchten nach einem Halt und umschlangen ein daneben stehendes Birkenstämmchen, aber erschrocken riß sie die Hand zurück und die Augen wieder auf, als es unter der Berührung plötzlich nachgab und die zitternde Blätterkrone seufzend an die Erde gleiten ließ. Rasch ernüchtert sprang sie einen Schritt zurück. Das fehlte noch, — eiferte sie in sich hinein — daß ich es machte, wie das dumme Ding da. Auf! sagte sie und schüttelte die fremde Schwäche von sich ab, indem sie kräftig wieder vorwärts schritt, wobei sie jedoch nicht umhin konnte, einen halb ängstlichen, halb erstaunten Blick auf den geknickten Baum zurückzuwerfen, dessen Stamm, wenn auch noch jung, doch stark genug erschien, der sehnigsten Männerfaust zu widerstehen. Bin ich behext oder ist's der Baum? murmelte sie gedankenvoll vor sich hin. Das war wohl Beides nicht der Fall. Aber vor kaum fünf Minuten hatte hier ein Mann gestanden, an derselben Stelle, wo sie stand, und dieselbe junge Birke mit der Hand umschlingend, die die ihrige umschlungen <TEI> <text> <body> <div n="0"> <p><pb facs="#f0022"/> weit langsamer als vorher und mit einem Drucke auf dem Herzen, welchen sie dem ansteigenden Wetter zuschrieb, sich dem Walde näherte.</p><lb/> <p>Immer schwerer ward die unsichtbare Last, unter der sie keuchte, und kaum hatten sie die ersten Bäume unter ihr bergendes Dunkel genommen, als sie vor Erschöpfung fast zusammenbrechend, mit geschlossnen Augen gegen einen derselben lehnte. Ihre Hände suchten nach einem Halt und umschlangen ein daneben stehendes Birkenstämmchen, aber erschrocken riß sie die Hand zurück und die Augen wieder auf, als es unter der Berührung plötzlich nachgab und die zitternde Blätterkrone seufzend an die Erde gleiten ließ.</p><lb/> <p>Rasch ernüchtert sprang sie einen Schritt zurück. Das fehlte noch, — eiferte sie in sich hinein — daß ich es machte, wie das dumme Ding da. Auf! sagte sie und schüttelte die fremde Schwäche von sich ab, indem sie kräftig wieder vorwärts schritt, wobei sie jedoch nicht umhin konnte, einen halb ängstlichen, halb erstaunten Blick auf den geknickten Baum zurückzuwerfen, dessen Stamm, wenn auch noch jung, doch stark genug erschien, der sehnigsten Männerfaust zu widerstehen. Bin ich behext oder ist's der Baum? murmelte sie gedankenvoll vor sich hin.</p><lb/> <p>Das war wohl Beides nicht der Fall. Aber vor kaum fünf Minuten hatte hier ein Mann gestanden, an derselben Stelle, wo sie stand, und dieselbe junge Birke mit der Hand umschlingend, die die ihrige umschlungen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0022]
weit langsamer als vorher und mit einem Drucke auf dem Herzen, welchen sie dem ansteigenden Wetter zuschrieb, sich dem Walde näherte.
Immer schwerer ward die unsichtbare Last, unter der sie keuchte, und kaum hatten sie die ersten Bäume unter ihr bergendes Dunkel genommen, als sie vor Erschöpfung fast zusammenbrechend, mit geschlossnen Augen gegen einen derselben lehnte. Ihre Hände suchten nach einem Halt und umschlangen ein daneben stehendes Birkenstämmchen, aber erschrocken riß sie die Hand zurück und die Augen wieder auf, als es unter der Berührung plötzlich nachgab und die zitternde Blätterkrone seufzend an die Erde gleiten ließ.
Rasch ernüchtert sprang sie einen Schritt zurück. Das fehlte noch, — eiferte sie in sich hinein — daß ich es machte, wie das dumme Ding da. Auf! sagte sie und schüttelte die fremde Schwäche von sich ab, indem sie kräftig wieder vorwärts schritt, wobei sie jedoch nicht umhin konnte, einen halb ängstlichen, halb erstaunten Blick auf den geknickten Baum zurückzuwerfen, dessen Stamm, wenn auch noch jung, doch stark genug erschien, der sehnigsten Männerfaust zu widerstehen. Bin ich behext oder ist's der Baum? murmelte sie gedankenvoll vor sich hin.
Das war wohl Beides nicht der Fall. Aber vor kaum fünf Minuten hatte hier ein Mann gestanden, an derselben Stelle, wo sie stand, und dieselbe junge Birke mit der Hand umschlingend, die die ihrige umschlungen
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Zitationshilfe: | Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/22>, abgerufen am 27.07.2024. |