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Lohenstein, Daniel Casper von: Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann. Bd. 1. Leipzig, 1689.

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Siebendes Buch
[Spaltenumbruch] che für Treue und Zuneigung annimmt; da es
den Fürsten doch nur in seinen Lastern einschlä-
fet/ und auf Vergrösserung der Heuchler ange-
zielet ist. Diese öffnen die Ohren ihres Fürsten
gegen die Sirenen-Lieder der reitzenden Wol-
lüste/ verstopffen sie aber gegen dem Schalle der
heilsamen Warheit. Sie sind die Spinnen/
welche mit ihrem Kothe die Tugend besudeln/
mit ihrem Gewebe den Abgrund des Verter-
bens überspinnen/ mit ihrem Giffte die Seele
des Königs und den Wolstand der Völcker töd-
ten. Wie viel heilsamer ist es den Fürsten ge-
hast/ als geliebkoset zu seyn. Denn der Haß ist
ein aufrichtiger Spiegel/ welcher uns unsere
Flecken deutlich für Augen stellt/ und sie abzu-
wischen uns erinnert. Die Heucheley aber ver-
deckt sie nicht nur/ sondern überfirnset sie auch
mit dem Kleister grosser Helden-Tugenden;
für welche ich Verleiteter auch vielmahl die
grausamsten Tugenden angesehen habe. Aber/
weiser Vater/ würdige den nun auch einer heil-
samen Artzney/ dessen Gemüths-Wunden du
ihm auffs Lebendige gerühret/ und dessen Seu-
chen du ihm entdeckt hast. Dem Einsiedler gefiel
dieses Erkäntnüß so wol: daß er Mitleiden mit
Marbods Verbrechen hatte/ und ihm antwor-
tete: Er wäre bereit auf dem rechten Wege sein
Hülffs-Mittel zu finden. Aber Marbod ver-
setzte: Er würde selbtes dennoch verfehlen/ wenn
er ihn nicht mit der Hand darzu leitete. Denn
wie die Natur in den Augen einen nicht gerin-
gen Fehler begangen hätte: daß sie alles andere/
sich alleine selbst nicht sehen könten; also wisse
der stets irrende Mensch ihm auch selten selbst zu
rechte zu helffen; und wie er über andere Feh-
ler Luchs-Augen hätte/ also wäre er in seinen
eigenen blinder/ als ein Maulwurff. Daß er
derogestalt die Heßligkeit seiner viehischen Ver-
stellung/ der Zornige nicht seine verdrehte Au-
gen/ der Wollüstige nicht seine thörichte Ge-
behrdung; weniger aber sein Heil erkennen kan.
Der Einsiedler fieng an: Jch spüre diese Blind-
[Spaltenumbruch] heit mehr denn zu viel an dir. Denn du hast das
Kraut zu deiner Genesung in Händen/ und sie-
hest es gleichwol nicht. Wolte GOtt! antwor-
tete Marbod; es wäre nicht allein so nahe bey
mir/ sondern auch nicht unsichtbar. Sich selbst
kennen/ fieng der treuhertzige Einsiedel an; ist
die Artzney wieder alle Gemüths-Schwachhei-
ten; und so allgemein: daß sie Königen und
Kohlbrennern anschlägt/ die Wurtzel aller
Vergnügung/ und der Pfeiler unser Glückse-
ligkeit ist. Denn/ was hilfft es alle andere Din-
ge kennen; wenn man ihm selbst unbekandt ist?
wiewol auch der schwerlich was anders kennen
kan; der sich selbst nie betrachtet/ oder seiner ver-
gessen hat. Alle andere Thiere kennen sich; und
ihr eingebohrner Trieb leitet sie zu allem/ was
ihre Erhaltung erfordert. Der schädliche Scor-
pion fleucht das Scorpionen-Kraut/ die
Schlange den Schatten der Eschbäume/ als ihr
tödtliches Gifft. Die verwundete Gemse kennet
ihr Wund-Kraut; und der Hirsch weiß ein
Mittel: daß ihm die Natter nicht schade; welche
er mit seinem Athem aus den Steinritzen gezo-
gen hat. Der elende Mensch allein kennet we-
der sich/ noch sein Gutes; sondern erquicket sich
am Giffte/ rennet in sein eigen Verterben/
verwundet sich mit seinem eigenen Messer; weil
er den Funcken der Göttligkeit/ nehmlich die
Vernunfft nicht zu Rathe nimmt/ und das edle
Kleinod des freyen Willens so schändlich miß-
braucht; und sich dardurch derogestalt verstel-
let: daß Socrates/ welchen doch die Gött-
liche Wahrsagung für den weisesten Men-
schen erklärt hatte/ an ihm selbst nicht ohne
Ursache zweiffelt: ob er ein rechter Mensch
oder ander Thier sey; und daß der so weise
Lehrmeister des Achilles Chiron sich nur für
einen Halb Menschen gelten läst; sein nie-
driges Theil aber zum Pferde macht; ja
die Weisen gar artlich die viehischen Nei-
gungen des Menschen dardurch für gebil-
det haben: daß Prometheus bey Bildung

des

Siebendes Buch
[Spaltenumbruch] che fuͤr Treue und Zuneigung annimmt; da es
den Fuͤrſten doch nur in ſeinen Laſtern einſchlaͤ-
fet/ und auf Vergroͤſſerung der Heuchler ange-
zielet iſt. Dieſe oͤffnen die Ohren ihres Fuͤrſten
gegen die Sirenen-Lieder der reitzenden Wol-
luͤſte/ verſtopffen ſie aber gegen dem Schalle der
heilſamen Warheit. Sie ſind die Spinnen/
welche mit ihrem Kothe die Tugend beſudeln/
mit ihrem Gewebe den Abgrund des Verter-
bens uͤberſpinnen/ mit ihrem Giffte die Seele
des Koͤnigs und den Wolſtand der Voͤlcker toͤd-
ten. Wie viel heilſamer iſt es den Fuͤrſten ge-
haſt/ als geliebkoſet zu ſeyn. Denn der Haß iſt
ein aufrichtiger Spiegel/ welcher uns unſere
Flecken deutlich fuͤr Augen ſtellt/ und ſie abzu-
wiſchen uns erinnert. Die Heucheley aber ver-
deckt ſie nicht nur/ ſondern uͤberfirnſet ſie auch
mit dem Kleiſter groſſer Helden-Tugenden;
fuͤr welche ich Verleiteter auch vielmahl die
grauſamſten Tugenden angeſehen habe. Aber/
weiſer Vater/ wuͤrdige den nun auch einer heil-
ſamen Artzney/ deſſen Gemuͤths-Wunden du
ihm auffs Lebendige geruͤhret/ und deſſen Seu-
chen du ihm entdeckt haſt. Dem Einſiedler gefiel
dieſes Erkaͤntnuͤß ſo wol: daß er Mitleiden mit
Marbods Verbrechen hatte/ und ihm antwor-
tete: Er waͤre bereit auf dem rechten Wege ſein
Huͤlffs-Mittel zu finden. Aber Marbod ver-
ſetzte: Er wuͤrde ſelbtes dennoch verfehlen/ wenn
er ihn nicht mit der Hand darzu leitete. Denn
wie die Natur in den Augen einen nicht gerin-
gen Fehler begangen haͤtte: daß ſie alles andere/
ſich alleine ſelbſt nicht ſehen koͤnten; alſo wiſſe
der ſtets irrende Menſch ihm auch ſelten ſelbſt zu
rechte zu helffen; und wie er uͤber andere Feh-
ler Luchs-Augen haͤtte/ alſo waͤre er in ſeinen
eigenen blinder/ als ein Maulwurff. Daß er
derogeſtalt die Heßligkeit ſeiner viehiſchen Ver-
ſtellung/ der Zornige nicht ſeine verdrehte Au-
gen/ der Wolluͤſtige nicht ſeine thoͤrichte Ge-
behrdung; weniger aber ſein Heil erkennen kan.
Der Einſiedler fieng an: Jch ſpuͤre dieſe Blind-
[Spaltenumbruch] heit mehr denn zu viel an dir. Denn du haſt das
Kraut zu deiner Geneſung in Haͤnden/ und ſie-
heſt es gleichwol nicht. Wolte GOtt! antwor-
tete Marbod; es waͤre nicht allein ſo nahe bey
mir/ ſondern auch nicht unſichtbar. Sich ſelbſt
kennen/ fieng der treuhertzige Einſiedel an; iſt
die Artzney wieder alle Gemuͤths-Schwachhei-
ten; und ſo allgemein: daß ſie Koͤnigen und
Kohlbrennern anſchlaͤgt/ die Wurtzel aller
Vergnuͤgung/ und der Pfeiler unſer Gluͤckſe-
ligkeit iſt. Denn/ was hilfft es alle andere Din-
ge kennen; wenn man ihm ſelbſt unbekandt iſt?
wiewol auch der ſchwerlich was anders kennen
kan; der ſich ſelbſt nie betrachtet/ oder ſeiner ver-
geſſen hat. Alle andere Thiere kennen ſich; und
ihr eingebohrner Trieb leitet ſie zu allem/ was
ihre Erhaltung erfordert. Der ſchaͤdliche Scor-
pion fleucht das Scorpionen-Kraut/ die
Schlange den Schatten der Eſchbaͤume/ als ihr
toͤdtliches Gifft. Die verwundete Gemſe kennet
ihr Wund-Kraut; und der Hirſch weiß ein
Mittel: daß ihm die Natter nicht ſchade; welche
er mit ſeinem Athem aus den Steinritzen gezo-
gen hat. Der elende Menſch allein kennet we-
der ſich/ noch ſein Gutes; ſondern erquicket ſich
am Giffte/ rennet in ſein eigen Verterben/
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er den Funcken der Goͤttligkeit/ nehmlich die
Vernunfft nicht zu Rathe nimmt/ und das edle
Kleinod des freyen Willens ſo ſchaͤndlich miß-
braucht; und ſich dardurch derogeſtalt verſtel-
let: daß Socrates/ welchen doch die Goͤtt-
liche Wahrſagung fuͤr den weiſeſten Men-
ſchen erklaͤrt hatte/ an ihm ſelbſt nicht ohne
Urſache zweiffelt: ob er ein rechter Menſch
oder ander Thier ſey; und daß der ſo weiſe
Lehrmeiſter des Achilles Chiron ſich nur fuͤr
einen Halb Menſchen gelten laͤſt; ſein nie-
driges Theil aber zum Pferde macht; ja
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gungen des Menſchen dardurch fuͤr gebil-
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des
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[1100[1102]/1164] Siebendes Buch che fuͤr Treue und Zuneigung annimmt; da es den Fuͤrſten doch nur in ſeinen Laſtern einſchlaͤ- fet/ und auf Vergroͤſſerung der Heuchler ange- zielet iſt. Dieſe oͤffnen die Ohren ihres Fuͤrſten gegen die Sirenen-Lieder der reitzenden Wol- luͤſte/ verſtopffen ſie aber gegen dem Schalle der heilſamen Warheit. Sie ſind die Spinnen/ welche mit ihrem Kothe die Tugend beſudeln/ mit ihrem Gewebe den Abgrund des Verter- bens uͤberſpinnen/ mit ihrem Giffte die Seele des Koͤnigs und den Wolſtand der Voͤlcker toͤd- ten. Wie viel heilſamer iſt es den Fuͤrſten ge- haſt/ als geliebkoſet zu ſeyn. Denn der Haß iſt ein aufrichtiger Spiegel/ welcher uns unſere Flecken deutlich fuͤr Augen ſtellt/ und ſie abzu- wiſchen uns erinnert. Die Heucheley aber ver- deckt ſie nicht nur/ ſondern uͤberfirnſet ſie auch mit dem Kleiſter groſſer Helden-Tugenden; fuͤr welche ich Verleiteter auch vielmahl die grauſamſten Tugenden angeſehen habe. Aber/ weiſer Vater/ wuͤrdige den nun auch einer heil- ſamen Artzney/ deſſen Gemuͤths-Wunden du ihm auffs Lebendige geruͤhret/ und deſſen Seu- chen du ihm entdeckt haſt. Dem Einſiedler gefiel dieſes Erkaͤntnuͤß ſo wol: daß er Mitleiden mit Marbods Verbrechen hatte/ und ihm antwor- tete: Er waͤre bereit auf dem rechten Wege ſein Huͤlffs-Mittel zu finden. Aber Marbod ver- ſetzte: Er wuͤrde ſelbtes dennoch verfehlen/ wenn er ihn nicht mit der Hand darzu leitete. Denn wie die Natur in den Augen einen nicht gerin- gen Fehler begangen haͤtte: daß ſie alles andere/ ſich alleine ſelbſt nicht ſehen koͤnten; alſo wiſſe der ſtets irrende Menſch ihm auch ſelten ſelbſt zu rechte zu helffen; und wie er uͤber andere Feh- ler Luchs-Augen haͤtte/ alſo waͤre er in ſeinen eigenen blinder/ als ein Maulwurff. Daß er derogeſtalt die Heßligkeit ſeiner viehiſchen Ver- ſtellung/ der Zornige nicht ſeine verdrehte Au- gen/ der Wolluͤſtige nicht ſeine thoͤrichte Ge- behrdung; weniger aber ſein Heil erkennen kan. Der Einſiedler fieng an: Jch ſpuͤre dieſe Blind- heit mehr denn zu viel an dir. Denn du haſt das Kraut zu deiner Geneſung in Haͤnden/ und ſie- heſt es gleichwol nicht. Wolte GOtt! antwor- tete Marbod; es waͤre nicht allein ſo nahe bey mir/ ſondern auch nicht unſichtbar. Sich ſelbſt kennen/ fieng der treuhertzige Einſiedel an; iſt die Artzney wieder alle Gemuͤths-Schwachhei- ten; und ſo allgemein: daß ſie Koͤnigen und Kohlbrennern anſchlaͤgt/ die Wurtzel aller Vergnuͤgung/ und der Pfeiler unſer Gluͤckſe- ligkeit iſt. Denn/ was hilfft es alle andere Din- ge kennen; wenn man ihm ſelbſt unbekandt iſt? wiewol auch der ſchwerlich was anders kennen kan; der ſich ſelbſt nie betrachtet/ oder ſeiner ver- geſſen hat. Alle andere Thiere kennen ſich; und ihr eingebohrner Trieb leitet ſie zu allem/ was ihre Erhaltung erfordert. Der ſchaͤdliche Scor- pion fleucht das Scorpionen-Kraut/ die Schlange den Schatten der Eſchbaͤume/ als ihr toͤdtliches Gifft. Die verwundete Gemſe kennet ihr Wund-Kraut; und der Hirſch weiß ein Mittel: daß ihm die Natter nicht ſchade; welche er mit ſeinem Athem aus den Steinritzen gezo- gen hat. Der elende Menſch allein kennet we- der ſich/ noch ſein Gutes; ſondern erquicket ſich am Giffte/ rennet in ſein eigen Verterben/ verwundet ſich mit ſeinem eigenen Meſſer; weil er den Funcken der Goͤttligkeit/ nehmlich die Vernunfft nicht zu Rathe nimmt/ und das edle Kleinod des freyen Willens ſo ſchaͤndlich miß- braucht; und ſich dardurch derogeſtalt verſtel- let: daß Socrates/ welchen doch die Goͤtt- liche Wahrſagung fuͤr den weiſeſten Men- ſchen erklaͤrt hatte/ an ihm ſelbſt nicht ohne Urſache zweiffelt: ob er ein rechter Menſch oder ander Thier ſey; und daß der ſo weiſe Lehrmeiſter des Achilles Chiron ſich nur fuͤr einen Halb Menſchen gelten laͤſt; ſein nie- driges Theil aber zum Pferde macht; ja die Weiſen gar artlich die viehiſchen Nei- gungen des Menſchen dardurch fuͤr gebil- det haben: daß Prometheus bey Bildung des

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Zitationshilfe: Lohenstein, Daniel Casper von: Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann. Bd. 1. Leipzig, 1689, S. 1100[1102]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lohenstein_feldherr01_1689/1164>, abgerufen am 19.05.2024.