II. Spricht nun der Hr. Prof. Manzel; der er- ste Mensch habe freylich diesen reinen Verstand nicht mit auf die Welt gebracht, sondern, wie wir ietzo, durch den Gebrauch seiner Sinnen sich einen Begrif der eintzelen Dinge, und, aus deren Zusammenhal- tung, allgemeine zu wege bringen müssen: Allein er ha- be doch eine besondere Fähigkeit gehabt, seinen Ver- stand von dem Joche der Sinnen, und der Einbil- dungs-Kraft loß zureissen: So frage ich ihn: Ob dann der Unterscheid unter uns, und dem ersten Menschen so groß ist, als er ihn machet? Ob der erste Mensch also nicht in eben so grosser Gefahr gewesen, zu irren, als wir? Ob also der Mensch so vollkommen erschaf- fen worden, als der Hr. Prof. vorgiebt? Ob der Hr. Prof. sich wohl getraue, diese Fähigkeit, welche er dem ersten Menschen beyleget, aus der Vernunft darzu- thun? Ob es wohl glaublich, daß GOtt den ersten Menschen mit einer sonderlichen Fähigkeit, seinen Verstand von aller Gemeinschaft mit den Sinnen und der Einbildungs-Kraft abzusondern, erschafen habe; da doch augenscheinlich ist, daß eine solche Rei- nigkeit des Verstandes gar nichts zu unserer wahren Glückseeligkeit beytragen kan? Ob Er wohl glaube, daß der erste Mensch zu einer Zeit, da er genug zu thun hatte, die eintzelen Dinge kennen zu lernen, sich um allgemeine Begrife bekümmert habe? Ob es nicht vielmehr eine Schwachheit, als eine Vollkommenheit anzeige, wenn man sich mehr um subtile und unnütze Grillen, als um einfältige, und dabey heilsame War- heiten bekümmert? Und ob es also nicht glaublicher sey, daß der Mensch in dem Stande der Unschuld mit klaren Begrifen zufrieden gewesen, als daß er sich um
eine
(o)
II. Spricht nun der Hr. Prof. Manzel; der er- ſte Menſch habe freylich dieſen reinen Verſtand nicht mit auf die Welt gebracht, ſondern, wie wir ietzo, durch den Gebrauch ſeiner Sinnen ſich einen Begrif der eintzelen Dinge, und, aus deren Zuſammenhal- tung, allgemeine zu wege bringen muͤſſen: Allein er ha- be doch eine beſondere Faͤhigkeit gehabt, ſeinen Ver- ſtand von dem Joche der Sinnen, und der Einbil- dungs-Kraft loß zureiſſen: So frage ich ihn: Ob dann der Unterſcheid unter uns, und dem erſten Menſchen ſo groß iſt, als er ihn machet? Ob der erſte Menſch alſo nicht in eben ſo groſſer Gefahr geweſen, zu irren, als wir? Ob alſo der Menſch ſo vollkommen erſchaf- fen worden, als der Hr. Prof. vorgiebt? Ob der Hr. Prof. ſich wohl getraue, dieſe Faͤhigkeit, welche er dem erſten Menſchen beyleget, aus der Vernunft darzu- thun? Ob es wohl glaublich, daß GOtt den erſten Menſchen mit einer ſonderlichen Faͤhigkeit, ſeinen Verſtand von aller Gemeinſchaft mit den Sinnen und der Einbildungs-Kraft abzuſondern, erſchafen habe; da doch augenſcheinlich iſt, daß eine ſolche Rei- nigkeit des Verſtandes gar nichts zu unſerer wahren Gluͤckſeeligkeit beytragen kan? Ob Er wohl glaube, daß der erſte Menſch zu einer Zeit, da er genug zu thun hatte, die eintzelen Dinge kennen zu lernen, ſich um allgemeine Begrife bekuͤmmert habe? Ob es nicht vielmehꝛ eine Schwachheit, als eine Vollkommenheit anzeige, wenn man ſich mehr um ſubtile und unnuͤtze Grillen, als um einfaͤltige, und dabey heilſame War- heiten bekuͤmmert? Und ob es alſo nicht glaublicher ſey, daß der Menſch in dem Stande der Unſchuld mit klaren Begrifen zufrieden geweſen, als daß er ſich um
eine
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0816"n="724"/><fwplace="top"type="header">(<hirendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/><p><hirendition="#aq">II.</hi> Spricht nun der Hr. Prof. Manzel; der er-<lb/>ſte Menſch habe freylich dieſen reinen Verſtand nicht<lb/>
mit auf die Welt gebracht, ſondern, wie wir ietzo,<lb/>
durch den Gebrauch ſeiner Sinnen ſich einen Begrif<lb/>
der eintzelen Dinge, und, aus deren Zuſammenhal-<lb/>
tung, allgemeine zu wege bringen muͤſſen: Allein er ha-<lb/>
be doch eine beſondere Faͤhigkeit gehabt, ſeinen Ver-<lb/>ſtand von dem Joche der Sinnen, und der Einbil-<lb/>
dungs-Kraft loß zureiſſen: So frage ich ihn: Ob dann<lb/>
der Unterſcheid unter uns, und dem erſten Menſchen<lb/>ſo groß iſt, als er ihn machet? Ob der erſte Menſch<lb/>
alſo nicht in eben ſo groſſer Gefahr geweſen, zu irren,<lb/>
als wir? Ob alſo der Menſch ſo vollkommen erſchaf-<lb/>
fen worden, als der Hr. Prof. vorgiebt? Ob der Hr.<lb/>
Prof. ſich wohl getraue, dieſe Faͤhigkeit, welche er dem<lb/>
erſten Menſchen beyleget, aus der Vernunft darzu-<lb/>
thun? Ob es wohl glaublich, daß GOtt den erſten<lb/>
Menſchen mit einer ſonderlichen Faͤhigkeit, ſeinen<lb/>
Verſtand von aller Gemeinſchaft mit den Sinnen<lb/>
und der Einbildungs-Kraft abzuſondern, erſchafen<lb/>
habe; da doch augenſcheinlich iſt, daß eine ſolche Rei-<lb/>
nigkeit des Verſtandes gar nichts zu unſerer wahren<lb/>
Gluͤckſeeligkeit beytragen kan? Ob Er wohl glaube,<lb/>
daß der erſte Menſch zu einer Zeit, da er genug zu thun<lb/>
hatte, die eintzelen Dinge kennen zu lernen, ſich um<lb/>
allgemeine Begrife bekuͤmmert habe? Ob es nicht<lb/>
vielmehꝛ eine Schwachheit, als eine Vollkommenheit<lb/>
anzeige, wenn man ſich mehr um ſubtile und unnuͤtze<lb/>
Grillen, als um einfaͤltige, und dabey heilſame War-<lb/>
heiten bekuͤmmert? Und ob es alſo nicht glaublicher<lb/>ſey, daß der Menſch in dem Stande der Unſchuld mit<lb/>
klaren Begrifen zufrieden geweſen, als daß er ſich um<lb/><fwplace="bottom"type="catch">eine</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[724/0816]
(o)
II. Spricht nun der Hr. Prof. Manzel; der er-
ſte Menſch habe freylich dieſen reinen Verſtand nicht
mit auf die Welt gebracht, ſondern, wie wir ietzo,
durch den Gebrauch ſeiner Sinnen ſich einen Begrif
der eintzelen Dinge, und, aus deren Zuſammenhal-
tung, allgemeine zu wege bringen muͤſſen: Allein er ha-
be doch eine beſondere Faͤhigkeit gehabt, ſeinen Ver-
ſtand von dem Joche der Sinnen, und der Einbil-
dungs-Kraft loß zureiſſen: So frage ich ihn: Ob dann
der Unterſcheid unter uns, und dem erſten Menſchen
ſo groß iſt, als er ihn machet? Ob der erſte Menſch
alſo nicht in eben ſo groſſer Gefahr geweſen, zu irren,
als wir? Ob alſo der Menſch ſo vollkommen erſchaf-
fen worden, als der Hr. Prof. vorgiebt? Ob der Hr.
Prof. ſich wohl getraue, dieſe Faͤhigkeit, welche er dem
erſten Menſchen beyleget, aus der Vernunft darzu-
thun? Ob es wohl glaublich, daß GOtt den erſten
Menſchen mit einer ſonderlichen Faͤhigkeit, ſeinen
Verſtand von aller Gemeinſchaft mit den Sinnen
und der Einbildungs-Kraft abzuſondern, erſchafen
habe; da doch augenſcheinlich iſt, daß eine ſolche Rei-
nigkeit des Verſtandes gar nichts zu unſerer wahren
Gluͤckſeeligkeit beytragen kan? Ob Er wohl glaube,
daß der erſte Menſch zu einer Zeit, da er genug zu thun
hatte, die eintzelen Dinge kennen zu lernen, ſich um
allgemeine Begrife bekuͤmmert habe? Ob es nicht
vielmehꝛ eine Schwachheit, als eine Vollkommenheit
anzeige, wenn man ſich mehr um ſubtile und unnuͤtze
Grillen, als um einfaͤltige, und dabey heilſame War-
heiten bekuͤmmert? Und ob es alſo nicht glaublicher
ſey, daß der Menſch in dem Stande der Unſchuld mit
klaren Begrifen zufrieden geweſen, als daß er ſich um
eine
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/816>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.