Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

Bild:
<< vorherige Seite
(o)

II. Spricht nun der Hr. Prof. Manzel; der er-
ste Mensch habe freylich diesen reinen Verstand nicht
mit auf die Welt gebracht, sondern, wie wir ietzo,
durch den Gebrauch seiner Sinnen sich einen Begrif
der eintzelen Dinge, und, aus deren Zusammenhal-
tung, allgemeine zu wege bringen müssen: Allein er ha-
be doch eine besondere Fähigkeit gehabt, seinen Ver-
stand von dem Joche der Sinnen, und der Einbil-
dungs-Kraft loß zureissen: So frage ich ihn: Ob dann
der Unterscheid unter uns, und dem ersten Menschen
so groß ist, als er ihn machet? Ob der erste Mensch
also nicht in eben so grosser Gefahr gewesen, zu irren,
als wir? Ob also der Mensch so vollkommen erschaf-
fen worden, als der Hr. Prof. vorgiebt? Ob der Hr.
Prof. sich wohl getraue, diese Fähigkeit, welche er dem
ersten Menschen beyleget, aus der Vernunft darzu-
thun? Ob es wohl glaublich, daß GOtt den ersten
Menschen mit einer sonderlichen Fähigkeit, seinen
Verstand von aller Gemeinschaft mit den Sinnen
und der Einbildungs-Kraft abzusondern, erschafen
habe; da doch augenscheinlich ist, daß eine solche Rei-
nigkeit des Verstandes gar nichts zu unserer wahren
Glückseeligkeit beytragen kan? Ob Er wohl glaube,
daß der erste Mensch zu einer Zeit, da er genug zu thun
hatte, die eintzelen Dinge kennen zu lernen, sich um
allgemeine Begrife bekümmert habe? Ob es nicht
vielmehr eine Schwachheit, als eine Vollkommenheit
anzeige, wenn man sich mehr um subtile und unnütze
Grillen, als um einfältige, und dabey heilsame War-
heiten bekümmert? Und ob es also nicht glaublicher
sey, daß der Mensch in dem Stande der Unschuld mit
klaren Begrifen zufrieden gewesen, als daß er sich um

eine
(o)

II. Spricht nun der Hr. Prof. Manzel; der er-
ſte Menſch habe freylich dieſen reinen Verſtand nicht
mit auf die Welt gebracht, ſondern, wie wir ietzo,
durch den Gebrauch ſeiner Sinnen ſich einen Begrif
der eintzelen Dinge, und, aus deren Zuſammenhal-
tung, allgemeine zu wege bringen muͤſſen: Allein er ha-
be doch eine beſondere Faͤhigkeit gehabt, ſeinen Ver-
ſtand von dem Joche der Sinnen, und der Einbil-
dungs-Kraft loß zureiſſen: So frage ich ihn: Ob dann
der Unterſcheid unter uns, und dem erſten Menſchen
ſo groß iſt, als er ihn machet? Ob der erſte Menſch
alſo nicht in eben ſo groſſer Gefahr geweſen, zu irren,
als wir? Ob alſo der Menſch ſo vollkommen erſchaf-
fen worden, als der Hr. Prof. vorgiebt? Ob der Hr.
Prof. ſich wohl getraue, dieſe Faͤhigkeit, welche er dem
erſten Menſchen beyleget, aus der Vernunft darzu-
thun? Ob es wohl glaublich, daß GOtt den erſten
Menſchen mit einer ſonderlichen Faͤhigkeit, ſeinen
Verſtand von aller Gemeinſchaft mit den Sinnen
und der Einbildungs-Kraft abzuſondern, erſchafen
habe; da doch augenſcheinlich iſt, daß eine ſolche Rei-
nigkeit des Verſtandes gar nichts zu unſerer wahren
Gluͤckſeeligkeit beytragen kan? Ob Er wohl glaube,
daß der erſte Menſch zu einer Zeit, da er genug zu thun
hatte, die eintzelen Dinge kennen zu lernen, ſich um
allgemeine Begrife bekuͤmmert habe? Ob es nicht
vielmehꝛ eine Schwachheit, als eine Vollkommenheit
anzeige, wenn man ſich mehr um ſubtile und unnuͤtze
Grillen, als um einfaͤltige, und dabey heilſame War-
heiten bekuͤmmert? Und ob es alſo nicht glaublicher
ſey, daß der Menſch in dem Stande der Unſchuld mit
klaren Begrifen zufrieden geweſen, als daß er ſich um

eine
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0816" n="724"/>
          <fw place="top" type="header">(<hi rendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
          <p><hi rendition="#aq">II.</hi> Spricht nun der Hr. Prof. Manzel; der er-<lb/>
&#x017F;te Men&#x017F;ch habe freylich die&#x017F;en reinen Ver&#x017F;tand nicht<lb/>
mit auf die Welt gebracht, &#x017F;ondern, wie wir ietzo,<lb/>
durch den Gebrauch &#x017F;einer Sinnen &#x017F;ich einen Begrif<lb/>
der eintzelen Dinge, und, aus deren Zu&#x017F;ammenhal-<lb/>
tung, allgemeine zu wege bringen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en: Allein er ha-<lb/>
be doch eine be&#x017F;ondere Fa&#x0364;higkeit gehabt, &#x017F;einen Ver-<lb/>
&#x017F;tand von dem Joche der Sinnen, und der Einbil-<lb/>
dungs-Kraft loß zurei&#x017F;&#x017F;en: So frage ich ihn: Ob dann<lb/>
der Unter&#x017F;cheid unter uns, und dem er&#x017F;ten Men&#x017F;chen<lb/>
&#x017F;o groß i&#x017F;t, als er ihn machet? Ob der er&#x017F;te Men&#x017F;ch<lb/>
al&#x017F;o nicht in eben &#x017F;o gro&#x017F;&#x017F;er Gefahr gewe&#x017F;en, zu irren,<lb/>
als wir? Ob al&#x017F;o der Men&#x017F;ch &#x017F;o vollkommen er&#x017F;chaf-<lb/>
fen worden, als der Hr. Prof. vorgiebt? Ob der Hr.<lb/>
Prof. &#x017F;ich wohl getraue, die&#x017F;e Fa&#x0364;higkeit, welche er dem<lb/>
er&#x017F;ten Men&#x017F;chen beyleget, aus der Vernunft darzu-<lb/>
thun? Ob es wohl glaublich, daß GOtt den er&#x017F;ten<lb/>
Men&#x017F;chen mit einer &#x017F;onderlichen Fa&#x0364;higkeit, &#x017F;einen<lb/>
Ver&#x017F;tand von aller Gemein&#x017F;chaft mit den Sinnen<lb/>
und der Einbildungs-Kraft abzu&#x017F;ondern, er&#x017F;chafen<lb/>
habe; da doch augen&#x017F;cheinlich i&#x017F;t, daß eine &#x017F;olche Rei-<lb/>
nigkeit des Ver&#x017F;tandes gar nichts zu un&#x017F;erer wahren<lb/>
Glu&#x0364;ck&#x017F;eeligkeit beytragen kan? Ob Er wohl glaube,<lb/>
daß der er&#x017F;te Men&#x017F;ch zu einer Zeit, da er genug zu thun<lb/>
hatte, die eintzelen Dinge kennen zu lernen, &#x017F;ich um<lb/>
allgemeine Begrife beku&#x0364;mmert habe? Ob es nicht<lb/>
vielmeh&#xA75B; eine Schwachheit, als eine Vollkommenheit<lb/>
anzeige, wenn man &#x017F;ich mehr um &#x017F;ubtile und unnu&#x0364;tze<lb/>
Grillen, als um einfa&#x0364;ltige, und dabey heil&#x017F;ame War-<lb/>
heiten beku&#x0364;mmert? Und ob es al&#x017F;o nicht glaublicher<lb/>
&#x017F;ey, daß der Men&#x017F;ch in dem Stande der Un&#x017F;chuld mit<lb/>
klaren Begrifen zufrieden gewe&#x017F;en, als daß er &#x017F;ich um<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">eine</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[724/0816] (o) II. Spricht nun der Hr. Prof. Manzel; der er- ſte Menſch habe freylich dieſen reinen Verſtand nicht mit auf die Welt gebracht, ſondern, wie wir ietzo, durch den Gebrauch ſeiner Sinnen ſich einen Begrif der eintzelen Dinge, und, aus deren Zuſammenhal- tung, allgemeine zu wege bringen muͤſſen: Allein er ha- be doch eine beſondere Faͤhigkeit gehabt, ſeinen Ver- ſtand von dem Joche der Sinnen, und der Einbil- dungs-Kraft loß zureiſſen: So frage ich ihn: Ob dann der Unterſcheid unter uns, und dem erſten Menſchen ſo groß iſt, als er ihn machet? Ob der erſte Menſch alſo nicht in eben ſo groſſer Gefahr geweſen, zu irren, als wir? Ob alſo der Menſch ſo vollkommen erſchaf- fen worden, als der Hr. Prof. vorgiebt? Ob der Hr. Prof. ſich wohl getraue, dieſe Faͤhigkeit, welche er dem erſten Menſchen beyleget, aus der Vernunft darzu- thun? Ob es wohl glaublich, daß GOtt den erſten Menſchen mit einer ſonderlichen Faͤhigkeit, ſeinen Verſtand von aller Gemeinſchaft mit den Sinnen und der Einbildungs-Kraft abzuſondern, erſchafen habe; da doch augenſcheinlich iſt, daß eine ſolche Rei- nigkeit des Verſtandes gar nichts zu unſerer wahren Gluͤckſeeligkeit beytragen kan? Ob Er wohl glaube, daß der erſte Menſch zu einer Zeit, da er genug zu thun hatte, die eintzelen Dinge kennen zu lernen, ſich um allgemeine Begrife bekuͤmmert habe? Ob es nicht vielmehꝛ eine Schwachheit, als eine Vollkommenheit anzeige, wenn man ſich mehr um ſubtile und unnuͤtze Grillen, als um einfaͤltige, und dabey heilſame War- heiten bekuͤmmert? Und ob es alſo nicht glaublicher ſey, daß der Menſch in dem Stande der Unſchuld mit klaren Begrifen zufrieden geweſen, als daß er ſich um eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Verlagsangabe wurde ermittelt (vgl. http://op… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/816
Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/816>, abgerufen am 25.11.2024.