Meinung, darum empfinden, weil unsere erste Eltern ihre Vollkommenheit verschertzet haben. Mich deucht, man kan daraus schliessen, daß die Kranckheiten nicht sonderlich geschickt sind, dasjenige zu beweisen, was der Hr. Prof. damit beweisen will.
II. Eben dieses sage ich von den Afecten, worauf sich der Hr. Prof. Mantzel berufet. Die Afecten sind zu unserer Erhaltung nöthig; und ein Mensch ohne Afecten oder Begierden würde einem Klotz nicht unähnlich seyn. Das Verlangen gemächlich zu leben, genug zu haben, und von andern geehret zu werden, ist so natürlich, als die Begierde, seinen Hunger zu stillen, und seinen Durst zu löschen. Es ist dahero nicht zu muthmassen, daß GOtt den Menschen ohne diese Neigungen erschafen habe.
Soll dieses nicht wahr seyn, so gestehe ich gerne, daß ich von dem ersten Menschen mir keinen Begrif machen kan. Denn wann ich die Natur des Men- schen betrachte, so scheinen mir diese Neigungen so nohtwendig aus seinem Wesen zu fliessen, als die Ründe aus dem Wesen eines Zirckels. Ein Zirckel, der nicht rund ist, ist kein Zirckel, und ein Mensch ohne alle Afecten kan wohl etwas, aber nicht dasjenige Thier seyn, welches wir unter diesem Nahmen ver- stehen.
Der Mensch, wofern er leben soll, muß das Ange- nehme begehren, und das Unangenehme fliehen. Diese Eigenschaft aber ist die Quelle aller der Neigungen unsers Gemüthes, die wir unter dem Nahmen der Afecten begreifen. Daß der Mensch dieselbe zu seinem Schaden gebrauchet, das ist gewiß eine Unvollkom- menheit: Aber nicht eine solche Schwachheit, die
nicht
(o)
Meinung, darum empfinden, weil unſere erſte Eltern ihꝛe Vollkommenheit veꝛſchertzet haben. Mich deucht, man kan daraus ſchlieſſen, daß die Kranckheiten nicht ſonderlich geſchickt ſind, dasjenige zu beweiſen, was der Hr. Prof. damit beweiſen will.
II. Eben dieſes ſage ich von den Afecten, worauf ſich der Hr. Prof. Mantzel berufet. Die Afecten ſind zu unſerer Erhaltung noͤthig; und ein Menſch ohne Afecten oder Begierden wuͤrde einem Klotz nicht unaͤhnlich ſeyn. Das Veꝛlangen gemaͤchlich zu leben, genug zu haben, und von andern geehret zu werden, iſt ſo natuͤrlich, als die Begierde, ſeinen Hunger zu ſtillen, und ſeinen Durſt zu loͤſchen. Es iſt dahero nicht zu muthmaſſen, daß GOtt den Menſchen ohne dieſe Neigungen erſchafen habe.
Soll dieſes nicht wahr ſeyn, ſo geſtehe ich gerne, daß ich von dem erſten Menſchen mir keinen Begrif machen kan. Denn wann ich die Natur des Men- ſchen betrachte, ſo ſcheinen mir dieſe Neigungen ſo nohtwendig aus ſeinem Weſen zu flieſſen, als die Ruͤnde aus dem Weſen eines Zirckels. Ein Zirckel, der nicht rund iſt, iſt kein Zirckel, und ein Menſch ohne alle Afecten kan wohl etwas, aber nicht dasjenige Thier ſeyn, welches wir unter dieſem Nahmen ver- ſtehen.
Der Menſch, wofern er leben ſoll, muß das Ange- nehme begehren, und das Unangenehme fliehen. Dieſe Eigenſchaft aber iſt die Quelle aller der Neigungen unſers Gemuͤthes, die wir unter dem Nahmen der Afecten begreifen. Daß der Menſch dieſelbe zu ſeinem Schaden gebrauchet, das iſt gewiß eine Unvollkom- menheit: Aber nicht eine ſolche Schwachheit, die
nicht
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(o)
Meinung, darum empfinden, weil unſere erſte Eltern
ihꝛe Vollkommenheit veꝛſchertzet haben. Mich deucht,
man kan daraus ſchlieſſen, daß die Kranckheiten
nicht ſonderlich geſchickt ſind, dasjenige zu beweiſen,
was der Hr. Prof. damit beweiſen will.
II. Eben dieſes ſage ich von den Afecten, worauf
ſich der Hr. Prof. Mantzel berufet. Die Afecten
ſind zu unſerer Erhaltung noͤthig; und ein Menſch
ohne Afecten oder Begierden wuͤrde einem Klotz nicht
unaͤhnlich ſeyn. Das Veꝛlangen gemaͤchlich zu leben,
genug zu haben, und von andern geehret zu werden, iſt
ſo natuͤrlich, als die Begierde, ſeinen Hunger zu ſtillen,
und ſeinen Durſt zu loͤſchen. Es iſt dahero nicht zu
muthmaſſen, daß GOtt den Menſchen ohne dieſe
Neigungen erſchafen habe.
Soll dieſes nicht wahr ſeyn, ſo geſtehe ich gerne,
daß ich von dem erſten Menſchen mir keinen Begrif
machen kan. Denn wann ich die Natur des Men-
ſchen betrachte, ſo ſcheinen mir dieſe Neigungen ſo
nohtwendig aus ſeinem Weſen zu flieſſen, als die
Ruͤnde aus dem Weſen eines Zirckels. Ein Zirckel,
der nicht rund iſt, iſt kein Zirckel, und ein Menſch ohne
alle Afecten kan wohl etwas, aber nicht dasjenige
Thier ſeyn, welches wir unter dieſem Nahmen ver-
ſtehen.
Der Menſch, wofern er leben ſoll, muß das Ange-
nehme begehren, und das Unangenehme fliehen. Dieſe
Eigenſchaft aber iſt die Quelle aller der Neigungen
unſers Gemuͤthes, die wir unter dem Nahmen der
Afecten begreifen. Daß der Menſch dieſelbe zu ſeinem
Schaden gebrauchet, das iſt gewiß eine Unvollkom-
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 708. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/800>, abgerufen am 22.11.2024.
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