mahls verlohren gegangen. Und dieses ist kein Wun- der. Das Alterthum hat etwas an sich, das in uns eine Art einer Ehrerbietung erwecket, die uns an- treibt, auch die Fehler desselben zu übersehen. Wenn wir demnach sehen, daß in alten Zeiten Laster, so bey uns nicht seltsam sind, entweder gar nicht, oder gar selten begangen worden: So gerathen wir in Ver- wunderung, und bilden uns ein, die Menschen, die zu den Zeiten gelebet haben, müssen gantz andere Thiere gewesen seyn, als wir. Aber wir betriegen uns sehr: Wie löblich auch ihr Wandel war, so waren sie doch Menschen, wie wir. Daß uns der Unterscheid zwi- schen uns und ihnen so groß vorkömt, das macht, daß wir unsere Thorheiten vor Augen sehen, und diejeni- gen, welche die Alten begangen haben, entweder gar nicht wissen, oder doch, aus Ehrerbietung gegen das Alterthum, nicht so hoch aufmutzen, als die Fehler des mit uns lebenden Nechsten.
Jch gebe Ew. Hochwohlgeb. zu bedencken, ob es nicht wahrscheinlich, daß alles, was die Heiden von der güldenen Zeit geschrieben haben, mehr aus einer übermäßigen Ehrerbietung gegen das Alterthum, als aus der gesunden Vernunft hergeflossen sey, und ob also der Hr. Prof. Manzel durch diese Einfälle der heidnischen Poeten etwas beweisen könne? Jch zw eifele an dem letzten um so viel mehr, weil selbst die heidnischen Poeten von dem Stande der Unschuld des Hrn. Manzels nichts wissen, und vielleicht das, was sie von der güldnen Zeit geschrieben, selbst nicht geglaubet haben. Sie bedienten sich in diesem Stü- cke der Freyheit, die ihnen Horatz gegeben hat: aber welcher er sich doch selbst, in Ansehung der
güld-
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mahls verlohren gegangen. Und dieſes iſt kein Wun- der. Das Alterthum hat etwas an ſich, das in uns eine Art einer Ehrerbietung erwecket, die uns an- treibt, auch die Fehler deſſelben zu uͤberſehen. Wenn wir demnach ſehen, daß in alten Zeiten Laſter, ſo bey uns nicht ſeltſam ſind, entweder gar nicht, oder gar ſelten begangen worden: So gerathen wir in Ver- wunderung, und bilden uns ein, die Menſchen, die zu den Zeiten gelebet haben, muͤſſen gantz andere Thiere geweſen ſeyn, als wir. Aber wir betriegen uns ſehr: Wie loͤblich auch ihr Wandel war, ſo waren ſie doch Menſchen, wie wir. Daß uns der Unterſcheid zwi- ſchen uns und ihnen ſo groß vorkoͤmt, das macht, daß wir unſere Thorheiten vor Augen ſehen, und diejeni- gen, welche die Alten begangen haben, entweder gar nicht wiſſen, oder doch, aus Ehrerbietung gegen das Alterthum, nicht ſo hoch aufmutzen, als die Fehler des mit uns lebenden Nechſten.
Jch gebe Ew. Hochwohlgeb. zu bedencken, ob es nicht wahrſcheinlich, daß alles, was die Heiden von der guͤldenen Zeit geſchrieben haben, mehr aus einer uͤbermaͤßigen Ehrerbietung gegen das Alterthum, als aus der geſunden Vernunft hergefloſſen ſey, und ob alſo der Hr. Prof. Manzel durch dieſe Einfaͤlle der heidniſchen Poeten etwas beweiſen koͤnne? Jch zw eifele an dem letzten um ſo viel mehr, weil ſelbſt die heidniſchen Poeten von dem Stande der Unſchuld des Hrn. Manzels nichts wiſſen, und vielleicht das, was ſie von der guͤldnen Zeit geſchrieben, ſelbſt nicht geglaubet haben. Sie bedienten ſich in dieſem Stuͤ- cke der Freyheit, die ihnen Horatz gegeben hat: aber welcher er ſich doch ſelbſt, in Anſehung der
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mahls verlohren gegangen. Und dieſes iſt kein Wun-
der. Das Alterthum hat etwas an ſich, das in uns
eine Art einer Ehrerbietung erwecket, die uns an-
treibt, auch die Fehler deſſelben zu uͤberſehen. Wenn
wir demnach ſehen, daß in alten Zeiten Laſter, ſo bey
uns nicht ſeltſam ſind, entweder gar nicht, oder gar
ſelten begangen worden: So gerathen wir in Ver-
wunderung, und bilden uns ein, die Menſchen, die zu
den Zeiten gelebet haben, muͤſſen gantz andere Thiere
geweſen ſeyn, als wir. Aber wir betriegen uns ſehr:
Wie loͤblich auch ihr Wandel war, ſo waren ſie doch
Menſchen, wie wir. Daß uns der Unterſcheid zwi-
ſchen uns und ihnen ſo groß vorkoͤmt, das macht, daß
wir unſere Thorheiten vor Augen ſehen, und diejeni-
gen, welche die Alten begangen haben, entweder gar
nicht wiſſen, oder doch, aus Ehrerbietung gegen das
Alterthum, nicht ſo hoch aufmutzen, als die Fehler des
mit uns lebenden Nechſten.
Jch gebe Ew. Hochwohlgeb. zu bedencken, ob es
nicht wahrſcheinlich, daß alles, was die Heiden von
der guͤldenen Zeit geſchrieben haben, mehr aus einer
uͤbermaͤßigen Ehrerbietung gegen das Alterthum,
als aus der geſunden Vernunft hergefloſſen ſey, und
ob alſo der Hr. Prof. Manzel durch dieſe Einfaͤlle der
heidniſchen Poeten etwas beweiſen koͤnne? Jch
zw eifele an dem letzten um ſo viel mehr, weil ſelbſt
die heidniſchen Poeten von dem Stande der Unſchuld
des Hrn. Manzels nichts wiſſen, und vielleicht das,
was ſie von der guͤldnen Zeit geſchrieben, ſelbſt nicht
geglaubet haben. Sie bedienten ſich in dieſem Stuͤ-
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aber welcher er ſich doch ſelbſt, in Anſehung der
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 660. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/752>, abgerufen am 22.11.2024.
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