Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

Bild:
<< vorherige Seite

(o)
muß man ihm sagen, daß die Vernunft ein solches
Geschöpfe nicht kenne. Sie stellet sich die ersten Men-
schen als unsere Kinder vor; diese lassen in dem Anfan-
ge ihres Lebens nicht so viele Boßheit von sich spüren,
als erwachsene Leute; desfalls aber sagen wir nicht
daß sie vollkommen sind. Und die Folge giebt es auch,
daß sie es nicht sind. So bald sie sich selbst erst recht
fühlen, lassen sie ihre angebohrne Unart blicken, und
diese wächst mit den Jahren. So gieng es nun auch
mit den ersten Menschen. Sie sündigten, wie ich schon
gesagt, aus Einfalt nicht, und werden gewiß nicht
lange in dieser heilsamen Einfalt geblieben seyn.

Wir haben von den ersten Zeiten schlechte Nach-
richten: Allein aus dem wenigen, so uns die Historie
von den allerältesten Zeiten lehret, können wir, ohne
grosse Kunst, sehen, daß nichts neues unter der Son-
nen geschiehet, und sich von je her unter den Menschen
gute und böse gefunden haben. Der Mensch ist, von
der Zeit seiner Schöpfung an, immer ein Mensch, das
ist: ein närrisches Thier gewesen.

Unsere Stamm-Mutter, Eva, begieng, kurtz nach
ihrer Schöpfung, da sie sich noch in ihrer Unschuld be-
fand, eine That, von welcher ich mir, in diesen letzten
Zeiten, ein Kind von einem nur mittel mäßig guten Ge-
müthe, durch die blosse Furcht der Ruthe abzuhalten
getraue. Jch weiß nicht, ob diese traurige Begebenheit
uns, so lange wir sie nach der blossen Vernunft be-
trachten, einen grossen Begrif von der Vollkommen-
heit der ersten Menschen geben kan. Was würde,
spricht die Vernunft, die gute Eva nicht vor Fehltritte
begehen, wenn sie mit aller Unschuld in der jetzigen
Welt lebte? Die Verführung ist heutiges Tages weit

grös-

(o)
muß man ihm ſagen, daß die Vernunft ein ſolches
Geſchoͤpfe nicht kenne. Sie ſtellet ſich die erſten Men-
ſchen als unſere Kinder vor; dieſe laſſen in dem Anfan-
ge ihres Lebens nicht ſo viele Boßheit von ſich ſpuͤren,
als erwachſene Leute; desfalls aber ſagen wir nicht
daß ſie vollkommen ſind. Und die Folge giebt es auch,
daß ſie es nicht ſind. So bald ſie ſich ſelbſt erſt recht
fuͤhlen, laſſen ſie ihre angebohrne Unart blicken, und
dieſe waͤchſt mit den Jahren. So gieng es nun auch
mit den erſten Menſchen. Sie ſuͤndigten, wie ich ſchon
geſagt, aus Einfalt nicht, und werden gewiß nicht
lange in dieſer heilſamen Einfalt geblieben ſeyn.

Wir haben von den erſten Zeiten ſchlechte Nach-
richten: Allein aus dem wenigen, ſo uns die Hiſtorie
von den alleraͤlteſten Zeiten lehret, koͤnnen wir, ohne
groſſe Kunſt, ſehen, daß nichts neues unter der Son-
nen geſchiehet, und ſich von je her unter den Menſchen
gute und boͤſe gefunden haben. Der Menſch iſt, von
der Zeit ſeiner Schoͤpfung an, immer ein Menſch, das
iſt: ein naͤrriſches Thier geweſen.

Unſere Stamm-Mutter, Eva, begieng, kurtz nach
ihrer Schoͤpfung, da ſie ſich noch in ihrer Unſchuld be-
fand, eine That, von welcher ich mir, in dieſen letzten
Zeiten, ein Kind von einem nuꝛ mittel maͤßig guten Ge-
muͤthe, durch die bloſſe Furcht der Ruthe abzuhalten
getraue. Jch weiß nicht, ob dieſe traurige Begebenheit
uns, ſo lange wir ſie nach der bloſſen Vernunft be-
trachten, einen groſſen Begrif von der Vollkommen-
heit der erſten Menſchen geben kan. Was wuͤrde,
ſpricht die Vernunft, die gute Eva nicht vor Fehltritte
begehen, wenn ſie mit aller Unſchuld in der jetzigen
Welt lebte? Die Verfuͤhrung iſt heutiges Tages weit

groͤſ-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0750" n="658"/><fw place="top" type="header">(<hi rendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
muß man ihm &#x017F;agen, daß die Vernunft ein &#x017F;olches<lb/>
Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe nicht kenne. Sie &#x017F;tellet &#x017F;ich die er&#x017F;ten Men-<lb/>
&#x017F;chen als un&#x017F;ere Kinder vor; die&#x017F;e la&#x017F;&#x017F;en in dem Anfan-<lb/>
ge ihres Lebens nicht &#x017F;o viele Boßheit von &#x017F;ich &#x017F;pu&#x0364;ren,<lb/>
als erwach&#x017F;ene Leute; desfalls aber &#x017F;agen wir nicht<lb/>
daß &#x017F;ie vollkommen &#x017F;ind. Und die Folge giebt es auch,<lb/>
daß &#x017F;ie es nicht &#x017F;ind. So bald &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t er&#x017F;t recht<lb/>
fu&#x0364;hlen, la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie ihre angebohrne Unart blicken, und<lb/>
die&#x017F;e wa&#x0364;ch&#x017F;t mit den Jahren. So gieng es nun auch<lb/>
mit den er&#x017F;ten Men&#x017F;chen. Sie &#x017F;u&#x0364;ndigten, wie ich &#x017F;chon<lb/>
ge&#x017F;agt, aus Einfalt nicht, und werden gewiß nicht<lb/>
lange in die&#x017F;er heil&#x017F;amen Einfalt geblieben &#x017F;eyn.</p><lb/>
          <p>Wir haben von den er&#x017F;ten Zeiten &#x017F;chlechte Nach-<lb/>
richten: Allein aus dem wenigen, &#x017F;o uns die Hi&#x017F;torie<lb/>
von den allera&#x0364;lte&#x017F;ten Zeiten lehret, ko&#x0364;nnen wir, ohne<lb/>
gro&#x017F;&#x017F;e Kun&#x017F;t, &#x017F;ehen, daß nichts neues unter der Son-<lb/>
nen ge&#x017F;chiehet, und &#x017F;ich von je her unter den Men&#x017F;chen<lb/>
gute und bo&#x0364;&#x017F;e gefunden haben. Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t, von<lb/>
der Zeit &#x017F;einer Scho&#x0364;pfung an, immer ein Men&#x017F;ch, das<lb/>
i&#x017F;t: ein na&#x0364;rri&#x017F;ches Thier gewe&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Un&#x017F;ere Stamm-Mutter, Eva, begieng, kurtz nach<lb/>
ihrer Scho&#x0364;pfung, da &#x017F;ie &#x017F;ich noch in ihrer Un&#x017F;chuld be-<lb/>
fand, eine That, von welcher ich mir, in die&#x017F;en letzten<lb/>
Zeiten, ein Kind von einem nu&#xA75B; mittel ma&#x0364;ßig guten Ge-<lb/>
mu&#x0364;the, durch die blo&#x017F;&#x017F;e Furcht der Ruthe abzuhalten<lb/>
getraue. Jch weiß nicht, ob die&#x017F;e traurige Begebenheit<lb/>
uns, &#x017F;o lange wir &#x017F;ie nach der blo&#x017F;&#x017F;en Vernunft be-<lb/>
trachten, einen gro&#x017F;&#x017F;en Begrif von der Vollkommen-<lb/>
heit der er&#x017F;ten Men&#x017F;chen geben kan. Was wu&#x0364;rde,<lb/>
&#x017F;pricht die Vernunft, die gute Eva nicht vor Fehltritte<lb/>
begehen, wenn &#x017F;ie mit aller Un&#x017F;chuld in der jetzigen<lb/>
Welt lebte? Die Verfu&#x0364;hrung i&#x017F;t heutiges Tages weit<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gro&#x0364;&#x017F;-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[658/0750] (o) muß man ihm ſagen, daß die Vernunft ein ſolches Geſchoͤpfe nicht kenne. Sie ſtellet ſich die erſten Men- ſchen als unſere Kinder vor; dieſe laſſen in dem Anfan- ge ihres Lebens nicht ſo viele Boßheit von ſich ſpuͤren, als erwachſene Leute; desfalls aber ſagen wir nicht daß ſie vollkommen ſind. Und die Folge giebt es auch, daß ſie es nicht ſind. So bald ſie ſich ſelbſt erſt recht fuͤhlen, laſſen ſie ihre angebohrne Unart blicken, und dieſe waͤchſt mit den Jahren. So gieng es nun auch mit den erſten Menſchen. Sie ſuͤndigten, wie ich ſchon geſagt, aus Einfalt nicht, und werden gewiß nicht lange in dieſer heilſamen Einfalt geblieben ſeyn. Wir haben von den erſten Zeiten ſchlechte Nach- richten: Allein aus dem wenigen, ſo uns die Hiſtorie von den alleraͤlteſten Zeiten lehret, koͤnnen wir, ohne groſſe Kunſt, ſehen, daß nichts neues unter der Son- nen geſchiehet, und ſich von je her unter den Menſchen gute und boͤſe gefunden haben. Der Menſch iſt, von der Zeit ſeiner Schoͤpfung an, immer ein Menſch, das iſt: ein naͤrriſches Thier geweſen. Unſere Stamm-Mutter, Eva, begieng, kurtz nach ihrer Schoͤpfung, da ſie ſich noch in ihrer Unſchuld be- fand, eine That, von welcher ich mir, in dieſen letzten Zeiten, ein Kind von einem nuꝛ mittel maͤßig guten Ge- muͤthe, durch die bloſſe Furcht der Ruthe abzuhalten getraue. Jch weiß nicht, ob dieſe traurige Begebenheit uns, ſo lange wir ſie nach der bloſſen Vernunft be- trachten, einen groſſen Begrif von der Vollkommen- heit der erſten Menſchen geben kan. Was wuͤrde, ſpricht die Vernunft, die gute Eva nicht vor Fehltritte begehen, wenn ſie mit aller Unſchuld in der jetzigen Welt lebte? Die Verfuͤhrung iſt heutiges Tages weit groͤſ-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Verlagsangabe wurde ermittelt (vgl. http://op… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/750
Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 658. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/750>, abgerufen am 22.11.2024.