Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

Bild:
<< vorherige Seite
(o)

Diese vortrefliche Eigenschaft erhebet uns un-
endlich über unsere Feinde. Ein guter Scribent
muß seine besten Jahre mit einem verdrießlichen
Lernen verderben: Weil er die abergläubige Einbil-
dung hat, man könne sonst nicht schreiben. Wir
hergegen fangen gantz frühe an zu schreiben, und
warten nicht biß die bösen Tage kommen, und die
Jahre herzu treten, da man sagt: Sie gefallen mir
nicht. Wir können gleich, ohne alle Vorberei-
tung, zum Wercke, schreiten, und ehe ein guter
Scribent mit der Einsammlung der Sachen fertig
ist, die er zu seinem Zweck nöthig achtet, haben wir
uns zehnmahl in Kupfer stechen lassen, und den be-
sten Platz in den Buch-Läden eingenommen. Ein
guter Scribent mag seine Zeit noch so wohl ange-
wandt und sich zum Schreiben so geschickt gemacht
haben, als er immer will, so wird er doch allezeit
gestehen, daß einige Materien ihm zu hoch sind,
und selbst von denen, die er verstehet, nicht ohne
vorhergegangene Ueberlegung und mit Furcht und
Zittern schreiben. Uns ist keine Materie zu hoch.
Wir wissen alles, ob wir gleich nichts wissen. Wir
schreiben drauf loß und kehren uns an nichts. Und
daher hat die Welt von uns die besten Dienste.
Wir entdecken eine unsägliche Menge der gefähr-
lichsten Jrrthümer, die unsere Feinde gemeiniglich
übersehen, und das in Schriften, die wir nicht ge-
lesen haben, und die wir, wenn wir sie lesen, kaum
verstehen. Wir sind die eyferigsten Vertheidiger
der Wahrheit, und ein Schrecken der Ketzer. Wir
entdecken sie, wie sehr sie sich auch verbergen: Und ob
wir gleich nicht wissen, was Ketzer und Ketzerey ist;

So
Kk 4
(o)

Dieſe vortrefliche Eigenſchaft erhebet uns un-
endlich uͤber unſere Feinde. Ein guter Scribent
muß ſeine beſten Jahre mit einem verdrießlichen
Lernen verderben: Weil er die aberglaͤubige Einbil-
dung hat, man koͤnne ſonſt nicht ſchreiben. Wir
hergegen fangen gantz fruͤhe an zu ſchreiben, und
warten nicht biß die boͤſen Tage kommen, und die
Jahre herzu treten, da man ſagt: Sie gefallen mir
nicht. Wir koͤnnen gleich, ohne alle Vorberei-
tung, zum Wercke, ſchreiten, und ehe ein guter
Scribent mit der Einſammlung der Sachen fertig
iſt, die er zu ſeinem Zweck noͤthig achtet, haben wir
uns zehnmahl in Kupfer ſtechen laſſen, und den be-
ſten Platz in den Buch-Laͤden eingenommen. Ein
guter Scribent mag ſeine Zeit noch ſo wohl ange-
wandt und ſich zum Schreiben ſo geſchickt gemacht
haben, als er immer will, ſo wird er doch allezeit
geſtehen, daß einige Materien ihm zu hoch ſind,
und ſelbſt von denen, die er verſtehet, nicht ohne
vorhergegangene Ueberlegung und mit Furcht und
Zittern ſchreiben. Uns iſt keine Materie zu hoch.
Wir wiſſen alles, ob wir gleich nichts wiſſen. Wir
ſchreiben drauf loß und kehren uns an nichts. Und
daher hat die Welt von uns die beſten Dienſte.
Wir entdecken eine unſaͤgliche Menge der gefaͤhr-
lichſten Jrrthuͤmer, die unſere Feinde gemeiniglich
uͤberſehen, und das in Schriften, die wir nicht ge-
leſen haben, und die wir, wenn wir ſie leſen, kaum
verſtehen. Wir ſind die eyferigſten Vertheidiger
der Wahrheit, und ein Schrecken der Ketzer. Wir
entdecken ſie, wie ſehr ſie ſich auch verbergen: Und ob
wir gleich nicht wiſſen, was Ketzer und Ketzerey iſt;

So
Kk 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0611" n="519"/>
          <fw place="top" type="header">(<hi rendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
          <p>Die&#x017F;e vortrefliche Eigen&#x017F;chaft erhebet uns un-<lb/>
endlich u&#x0364;ber un&#x017F;ere Feinde. Ein guter Scribent<lb/>
muß &#x017F;eine be&#x017F;ten Jahre mit einem verdrießlichen<lb/>
Lernen verderben: Weil er die abergla&#x0364;ubige Einbil-<lb/>
dung hat, man ko&#x0364;nne &#x017F;on&#x017F;t nicht &#x017F;chreiben. Wir<lb/>
hergegen fangen gantz fru&#x0364;he an zu &#x017F;chreiben, und<lb/>
warten nicht biß die bo&#x0364;&#x017F;en Tage kommen, und die<lb/>
Jahre herzu treten, da man &#x017F;agt: Sie gefallen mir<lb/>
nicht. Wir ko&#x0364;nnen gleich, ohne alle Vorberei-<lb/>
tung, zum Wercke, &#x017F;chreiten, und ehe ein guter<lb/>
Scribent mit der Ein&#x017F;ammlung der Sachen fertig<lb/>
i&#x017F;t, die er zu &#x017F;einem Zweck no&#x0364;thig achtet, haben wir<lb/>
uns zehnmahl in Kupfer &#x017F;techen la&#x017F;&#x017F;en, und den be-<lb/>
&#x017F;ten Platz in den Buch-La&#x0364;den eingenommen. Ein<lb/>
guter Scribent mag &#x017F;eine Zeit noch &#x017F;o wohl ange-<lb/>
wandt und &#x017F;ich zum Schreiben &#x017F;o ge&#x017F;chickt gemacht<lb/>
haben, als er immer will, &#x017F;o wird er doch allezeit<lb/>
ge&#x017F;tehen, daß einige Materien ihm zu hoch &#x017F;ind,<lb/>
und &#x017F;elb&#x017F;t von denen, die er ver&#x017F;tehet, nicht ohne<lb/>
vorhergegangene Ueberlegung und mit Furcht und<lb/>
Zittern &#x017F;chreiben. Uns i&#x017F;t keine Materie zu hoch.<lb/>
Wir wi&#x017F;&#x017F;en alles, ob wir gleich nichts wi&#x017F;&#x017F;en. Wir<lb/>
&#x017F;chreiben drauf loß und kehren uns an nichts. Und<lb/>
daher hat die Welt von uns die be&#x017F;ten Dien&#x017F;te.<lb/>
Wir entdecken eine un&#x017F;a&#x0364;gliche Menge der gefa&#x0364;hr-<lb/>
lich&#x017F;ten Jrrthu&#x0364;mer, die un&#x017F;ere Feinde gemeiniglich<lb/>
u&#x0364;ber&#x017F;ehen, und das in Schriften, die wir nicht ge-<lb/>
le&#x017F;en haben, und die wir, wenn wir &#x017F;ie le&#x017F;en, kaum<lb/>
ver&#x017F;tehen. Wir &#x017F;ind die eyferig&#x017F;ten Vertheidiger<lb/>
der Wahrheit, und ein Schrecken der Ketzer. Wir<lb/>
entdecken &#x017F;ie, wie &#x017F;ehr &#x017F;ie &#x017F;ich auch verbergen: Und ob<lb/>
wir gleich nicht wi&#x017F;&#x017F;en, was Ketzer und Ketzerey i&#x017F;t;<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Kk 4</fw><fw place="bottom" type="catch">So</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[519/0611] (o) Dieſe vortrefliche Eigenſchaft erhebet uns un- endlich uͤber unſere Feinde. Ein guter Scribent muß ſeine beſten Jahre mit einem verdrießlichen Lernen verderben: Weil er die aberglaͤubige Einbil- dung hat, man koͤnne ſonſt nicht ſchreiben. Wir hergegen fangen gantz fruͤhe an zu ſchreiben, und warten nicht biß die boͤſen Tage kommen, und die Jahre herzu treten, da man ſagt: Sie gefallen mir nicht. Wir koͤnnen gleich, ohne alle Vorberei- tung, zum Wercke, ſchreiten, und ehe ein guter Scribent mit der Einſammlung der Sachen fertig iſt, die er zu ſeinem Zweck noͤthig achtet, haben wir uns zehnmahl in Kupfer ſtechen laſſen, und den be- ſten Platz in den Buch-Laͤden eingenommen. Ein guter Scribent mag ſeine Zeit noch ſo wohl ange- wandt und ſich zum Schreiben ſo geſchickt gemacht haben, als er immer will, ſo wird er doch allezeit geſtehen, daß einige Materien ihm zu hoch ſind, und ſelbſt von denen, die er verſtehet, nicht ohne vorhergegangene Ueberlegung und mit Furcht und Zittern ſchreiben. Uns iſt keine Materie zu hoch. Wir wiſſen alles, ob wir gleich nichts wiſſen. Wir ſchreiben drauf loß und kehren uns an nichts. Und daher hat die Welt von uns die beſten Dienſte. Wir entdecken eine unſaͤgliche Menge der gefaͤhr- lichſten Jrrthuͤmer, die unſere Feinde gemeiniglich uͤberſehen, und das in Schriften, die wir nicht ge- leſen haben, und die wir, wenn wir ſie leſen, kaum verſtehen. Wir ſind die eyferigſten Vertheidiger der Wahrheit, und ein Schrecken der Ketzer. Wir entdecken ſie, wie ſehr ſie ſich auch verbergen: Und ob wir gleich nicht wiſſen, was Ketzer und Ketzerey iſt; So Kk 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Verlagsangabe wurde ermittelt (vgl. http://op… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/611
Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/611>, abgerufen am 22.11.2024.