Lebens, worüber die Vernünftler so hertzbrechend seufzen, kaum empfindet. Zu dieser glücklichen Zufriedenheit kan ein Mensch, der seiner Vernunft Gehör giebt, nicht gelangen. Die Eitelkeiten und Thorheiten der Welt müssen ihm nothwendig Ver- druß und Eckel erwecken. Alle Ehre, aller Vor- theil und alles Vergnügen, so die Welt geben kan, ist in seinen Augen gar zu verächtlich, als daß er darnach trachten sollte. Er spricht: Die Welt vergeht mit ihrer Lust. Die gantze Ordnung der Natur ist ihm zuwider. Er tadelt dieselbe, und zweifelt, ob die Natur mütterlich, oder als eine Stief-Mutter mit uns gehandelt habe, parens me- lior homini, an tristior noverca fuerit(14)? Ja seine Schwermuth und Verzweifelung steiget biß- weilen so hoch, daß er behauptet; das beste sey, gar nicht gebohren werden, oder doch bald wieder sterben (15).
Alle diese traurige Gedancken rühren aus dem Gebrauch der Vernunft her. Wie kann aber mit diesen Einfällen die Glückseeligkeit bestehen, nach welcher alle Menschen trachten? Mich deucht, die- jenigen, die ein glücklicher Mangel von Nachden- cken vor solchen schwermüthigen Grillen sichert, ha- ben nicht Ursache, Leute zu beneiden, die mit einer so verdrießlichen Weißheit begabet sind.
Jch verlange zum wenigsten nicht an ihrer Stel- le zu seyn; was sie auch von ihrer Glückseeligkeit schwatzen. Denn das Mittel, wodurch sie glück-
lich
(14)Plinius Hist. Nat. Lib. VII. in prooem.
(15)Plinius l. c. multi extitere, qui non nasci optimum censerent, aut quam ocyssime aboleri.
(o)
Lebens, woruͤber die Vernuͤnftler ſo hertzbrechend ſeufzen, kaum empfindet. Zu dieſer gluͤcklichen Zufriedenheit kan ein Menſch, der ſeiner Vernunft Gehoͤr giebt, nicht gelangen. Die Eitelkeiten und Thorheiten der Welt muͤſſen ihm nothwendig Ver- druß und Eckel erwecken. Alle Ehre, aller Vor- theil und alles Vergnuͤgen, ſo die Welt geben kan, iſt in ſeinen Augen gar zu veraͤchtlich, als daß er darnach trachten ſollte. Er ſpricht: Die Welt vergeht mit ihrer Luſt. Die gantze Ordnung der Natur iſt ihm zuwider. Er tadelt dieſelbe, und zweifelt, ob die Natur muͤtterlich, oder als eine Stief-Mutter mit uns gehandelt habe, parens me- lior homini, an triſtior noverca fuerit(14)? Ja ſeine Schwermuth und Verzweifelung ſteiget biß- weilen ſo hoch, daß er behauptet; das beſte ſey, gar nicht gebohren werden, oder doch bald wieder ſterben (15).
Alle dieſe traurige Gedancken ruͤhren aus dem Gebrauch der Vernunft her. Wie kann aber mit dieſen Einfaͤllen die Gluͤckſeeligkeit beſtehen, nach welcher alle Menſchen trachten? Mich deucht, die- jenigen, die ein gluͤcklicher Mangel von Nachden- cken vor ſolchen ſchwermuͤthigen Grillen ſichert, ha- ben nicht Urſache, Leute zu beneiden, die mit einer ſo verdrießlichen Weißheit begabet ſind.
Jch verlange zum wenigſten nicht an ihrer Stel- le zu ſeyn; was ſie auch von ihrer Gluͤckſeeligkeit ſchwatzen. Denn das Mittel, wodurch ſie gluͤck-
lich
(14)Plinius Hiſt. Nat. Lib. VII. in proœm.
(15)Plinius l. c. multi extitere, qui non naſci optimum cenſerent, aut quam ocyſſime aboleri.
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Lebens, woruͤber die Vernuͤnftler ſo hertzbrechend
ſeufzen, kaum empfindet. Zu dieſer gluͤcklichen
Zufriedenheit kan ein Menſch, der ſeiner Vernunft
Gehoͤr giebt, nicht gelangen. Die Eitelkeiten und
Thorheiten der Welt muͤſſen ihm nothwendig Ver-
druß und Eckel erwecken. Alle Ehre, aller Vor-
theil und alles Vergnuͤgen, ſo die Welt geben kan,
iſt in ſeinen Augen gar zu veraͤchtlich, als daß er
darnach trachten ſollte. Er ſpricht: Die Welt
vergeht mit ihrer Luſt. Die gantze Ordnung der
Natur iſt ihm zuwider. Er tadelt dieſelbe, und
zweifelt, ob die Natur muͤtterlich, oder als eine
Stief-Mutter mit uns gehandelt habe, parens me-
lior homini, an triſtior noverca fuerit (14)? Ja
ſeine Schwermuth und Verzweifelung ſteiget biß-
weilen ſo hoch, daß er behauptet; das beſte ſey,
gar nicht gebohren werden, oder doch bald wieder
ſterben (15).
Alle dieſe traurige Gedancken ruͤhren aus dem
Gebrauch der Vernunft her. Wie kann aber mit
dieſen Einfaͤllen die Gluͤckſeeligkeit beſtehen, nach
welcher alle Menſchen trachten? Mich deucht, die-
jenigen, die ein gluͤcklicher Mangel von Nachden-
cken vor ſolchen ſchwermuͤthigen Grillen ſichert, ha-
ben nicht Urſache, Leute zu beneiden, die mit einer
ſo verdrießlichen Weißheit begabet ſind.
Jch verlange zum wenigſten nicht an ihrer Stel-
le zu ſeyn; was ſie auch von ihrer Gluͤckſeeligkeit
ſchwatzen. Denn das Mittel, wodurch ſie gluͤck-
lich
(14) Plinius Hiſt. Nat. Lib. VII. in proœm.
(15) Plinius l. c. multi extitere, qui non naſci
optimum cenſerent, aut quam ocyſſime aboleri.
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/584>, abgerufen am 22.11.2024.
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