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Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889.

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heran, und der grosse Rasenplatz dient als Versuchsfeld für
die Flugübungen.

Zunächst wird die grüne Fläche des Morgens nach In-
sekten und Schnecken abgesucht, und mancher Regenwurm,
der noch von seinem nächtlichen Treiben her mit dem spitzen
Kopfe aus der Erde hervorlugt, wird von den scharfen Augen
selbst im tiefsten Grase erspäht, mit der Schnabelspitze lang-
sam hervorgezogen, damit er nicht abreisst, und mit Appetit
in den Schlund geworfen. Dann aber beginnt das Studium
des Fliegens, wobei zunächst die Windrichtung ausgekund-
schaftet wird. Wie auf dem Dache, so werden auch hier alle
Übungen gegen den Wind ausgeführt. Aber der Wind ist
hier nicht so beständig wie auf dem Dache und daher die
Übung schwieriger. Zuweilen ruft ein stärkerer, von einer
geschützten Seite anwehender Wind Luftwirbel hervor, die
bald von hier, bald von dort anwehen. Dann sieht es lustig
aus, wie die übungsbeflissenen Störche mit gehobenen Flügeln
herumtanzen und nach den Windstössen haschen, die bald
von vorn, bald von hinten, bald von der Seite kommen. Ge-
lingt ein so versuchter kurzer Aufflug, dann erschallt sofort
freudiges Geklapper. Bläst der Wind beständig von einer
freien Seite über die Lichtung, dann wird ihm hüpfend und
laufend entgegengeflogen, Kehrt gemacht, und gravitätisch
wieder an das andere Ende des Platzes stolziert, um von
neuem den Anflug gegen den die Hebung erleichternden Wind
zu versuchen.

So werden die Übungen täglich fortgesetzt. Zuerst gelingt
bei einem Aufsprung nur ein einziger Flügelschlag; denn be-
vor zum zweiten Schlage ausgeholt ist, stehen die langen vor-
sichtig gehaltenen Beine schon wieder auf dem Boden. Sowie
aber diese Klippe erst überwunden ist, wenn der zweite Flügel-
schlag gemacht werden kann, ohne dass die Beine aufstossen,
wenn der Storch also beim zweiten Heben der Flügel den
Boden nicht erreichte, dann geht es mit Riesenschritten vor-
wärts; denn die vermehrte Vorwärtsgeschwindigkeit erleichtert
den Flug, so dass auch bald 3, 4 und mehr Flügelschläge

heran, und der groſse Rasenplatz dient als Versuchsfeld für
die Flugübungen.

Zunächst wird die grüne Fläche des Morgens nach In-
sekten und Schnecken abgesucht, und mancher Regenwurm,
der noch von seinem nächtlichen Treiben her mit dem spitzen
Kopfe aus der Erde hervorlugt, wird von den scharfen Augen
selbst im tiefsten Grase erspäht, mit der Schnabelspitze lang-
sam hervorgezogen, damit er nicht abreiſst, und mit Appetit
in den Schlund geworfen. Dann aber beginnt das Studium
des Fliegens, wobei zunächst die Windrichtung ausgekund-
schaftet wird. Wie auf dem Dache, so werden auch hier alle
Übungen gegen den Wind ausgeführt. Aber der Wind ist
hier nicht so beständig wie auf dem Dache und daher die
Übung schwieriger. Zuweilen ruft ein stärkerer, von einer
geschützten Seite anwehender Wind Luftwirbel hervor, die
bald von hier, bald von dort anwehen. Dann sieht es lustig
aus, wie die übungsbeflissenen Störche mit gehobenen Flügeln
herumtanzen und nach den Windstöſsen haschen, die bald
von vorn, bald von hinten, bald von der Seite kommen. Ge-
lingt ein so versuchter kurzer Aufflug, dann erschallt sofort
freudiges Geklapper. Bläst der Wind beständig von einer
freien Seite über die Lichtung, dann wird ihm hüpfend und
laufend entgegengeflogen, Kehrt gemacht, und gravitätisch
wieder an das andere Ende des Platzes stolziert, um von
neuem den Anflug gegen den die Hebung erleichternden Wind
zu versuchen.

So werden die Übungen täglich fortgesetzt. Zuerst gelingt
bei einem Aufsprung nur ein einziger Flügelschlag; denn be-
vor zum zweiten Schlage ausgeholt ist, stehen die langen vor-
sichtig gehaltenen Beine schon wieder auf dem Boden. Sowie
aber diese Klippe erst überwunden ist, wenn der zweite Flügel-
schlag gemacht werden kann, ohne daſs die Beine aufstoſsen,
wenn der Storch also beim zweiten Heben der Flügel den
Boden nicht erreichte, dann geht es mit Riesenschritten vor-
wärts; denn die vermehrte Vorwärtsgeschwindigkeit erleichtert
den Flug, so daſs auch bald 3, 4 und mehr Flügelschläge

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[152/0168] heran, und der groſse Rasenplatz dient als Versuchsfeld für die Flugübungen. Zunächst wird die grüne Fläche des Morgens nach In- sekten und Schnecken abgesucht, und mancher Regenwurm, der noch von seinem nächtlichen Treiben her mit dem spitzen Kopfe aus der Erde hervorlugt, wird von den scharfen Augen selbst im tiefsten Grase erspäht, mit der Schnabelspitze lang- sam hervorgezogen, damit er nicht abreiſst, und mit Appetit in den Schlund geworfen. Dann aber beginnt das Studium des Fliegens, wobei zunächst die Windrichtung ausgekund- schaftet wird. Wie auf dem Dache, so werden auch hier alle Übungen gegen den Wind ausgeführt. Aber der Wind ist hier nicht so beständig wie auf dem Dache und daher die Übung schwieriger. Zuweilen ruft ein stärkerer, von einer geschützten Seite anwehender Wind Luftwirbel hervor, die bald von hier, bald von dort anwehen. Dann sieht es lustig aus, wie die übungsbeflissenen Störche mit gehobenen Flügeln herumtanzen und nach den Windstöſsen haschen, die bald von vorn, bald von hinten, bald von der Seite kommen. Ge- lingt ein so versuchter kurzer Aufflug, dann erschallt sofort freudiges Geklapper. Bläst der Wind beständig von einer freien Seite über die Lichtung, dann wird ihm hüpfend und laufend entgegengeflogen, Kehrt gemacht, und gravitätisch wieder an das andere Ende des Platzes stolziert, um von neuem den Anflug gegen den die Hebung erleichternden Wind zu versuchen. So werden die Übungen täglich fortgesetzt. Zuerst gelingt bei einem Aufsprung nur ein einziger Flügelschlag; denn be- vor zum zweiten Schlage ausgeholt ist, stehen die langen vor- sichtig gehaltenen Beine schon wieder auf dem Boden. Sowie aber diese Klippe erst überwunden ist, wenn der zweite Flügel- schlag gemacht werden kann, ohne daſs die Beine aufstoſsen, wenn der Storch also beim zweiten Heben der Flügel den Boden nicht erreichte, dann geht es mit Riesenschritten vor- wärts; denn die vermehrte Vorwärtsgeschwindigkeit erleichtert den Flug, so daſs auch bald 3, 4 und mehr Flügelschläge

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Zitationshilfe: Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lilienthal_vogelflug_1889/168>, abgerufen am 25.11.2024.