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Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889.

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können; unbeholfen, ungeschickt, aber nie unglücklich, weil
stets vorsichtig.

Der Storch aber, den man bei niedrigem, langsamem Fluge
an den durch Bäume geschützten überwindigen Stellen für
einen Stümper hielt, erlangt sofort eine Sicherheit und Aus-
dauer im Fluge, sobald er über die Baumkronen sich erheben
kann und den frischen Wind unter den Flügeln verspürt.
Daran merkt man so recht, was der Wind den Vögeln ist,
indem auch die jungen Störche gleich durch den Wind ver-
führt werden, die anstrengenden Flügelschläge zu sparen und
das Segeln zu versuchen.

Durch diese unerwartete Vervollkommnung im Fluge der
jungen Störche, habe ich einst meine drei besten Flieger ver-
loren; denn ich glaubte an eine so schnelle Entwickelung
nicht, als eine nur dreitägige Reise mich von Hause rief, und
gab daher keine Anweisung, die Störche eingesperrt zu halten,
obwohl die Zeit des Abzuges nahte. Bei meiner Rückkehr
musste ich denn auch leider erfahren, dass durch den höheren
Flug und die zufällig eingetretenen windigen Tage diese drei
jungen Störche, die vorher den Eindruck machten, als hätten
sie die grössten Anstrengungen bei ihren kleinen niedrigen
Flügen, dass diese Tiere plötzlich ausdauernde Flieger geworden,
und schon am 31. Juli von anderen vorüberziehenden Störchen
zur Mitreise verführt worden seien.

Auf die an die Meinen gerichtete Frage, warum denn der
hohe Flug der Störche, von dem sie doch zuerst abends wieder
in den Stall zurückkehrten, keine Veranlassung gegeben habe,
sie vorsichtig eingeschlossen zu halten, erhielt ich die Ant-
wort: "Hättest du gesehen, wie schön unsere Störche geflogen
sind, wie sie sich in den letzten Tagen in der Luft wiegend
höher und höher erhoben, du hättest es selbst nicht übers
Herz gebracht, sie eingesperrt zu halten und an diesen herr-
lichen Bewegungen zu hindern, nach denen ihr bittender Blick
aus ihren sanften schwarzen Augen verlangte".

Wir aber wollen am Storch, mit dem unsere Einleitung

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können; unbeholfen, ungeschickt, aber nie unglücklich, weil
stets vorsichtig.

Der Storch aber, den man bei niedrigem, langsamem Fluge
an den durch Bäume geschützten überwindigen Stellen für
einen Stümper hielt, erlangt sofort eine Sicherheit und Aus-
dauer im Fluge, sobald er über die Baumkronen sich erheben
kann und den frischen Wind unter den Flügeln verspürt.
Daran merkt man so recht, was der Wind den Vögeln ist,
indem auch die jungen Störche gleich durch den Wind ver-
führt werden, die anstrengenden Flügelschläge zu sparen und
das Segeln zu versuchen.

Durch diese unerwartete Vervollkommnung im Fluge der
jungen Störche, habe ich einst meine drei besten Flieger ver-
loren; denn ich glaubte an eine so schnelle Entwickelung
nicht, als eine nur dreitägige Reise mich von Hause rief, und
gab daher keine Anweisung, die Störche eingesperrt zu halten,
obwohl die Zeit des Abzuges nahte. Bei meiner Rückkehr
muſste ich denn auch leider erfahren, daſs durch den höheren
Flug und die zufällig eingetretenen windigen Tage diese drei
jungen Störche, die vorher den Eindruck machten, als hätten
sie die gröſsten Anstrengungen bei ihren kleinen niedrigen
Flügen, daſs diese Tiere plötzlich ausdauernde Flieger geworden,
und schon am 31. Juli von anderen vorüberziehenden Störchen
zur Mitreise verführt worden seien.

Auf die an die Meinen gerichtete Frage, warum denn der
hohe Flug der Störche, von dem sie doch zuerst abends wieder
in den Stall zurückkehrten, keine Veranlassung gegeben habe,
sie vorsichtig eingeschlossen zu halten, erhielt ich die Ant-
wort: „Hättest du gesehen, wie schön unsere Störche geflogen
sind, wie sie sich in den letzten Tagen in der Luft wiegend
höher und höher erhoben, du hättest es selbst nicht übers
Herz gebracht, sie eingesperrt zu halten und an diesen herr-
lichen Bewegungen zu hindern, nach denen ihr bittender Blick
aus ihren sanften schwarzen Augen verlangte“.

Wir aber wollen am Storch, mit dem unsere Einleitung

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[153/0169] bündig hintereinander in einem Satze ausgeführt werden können; unbeholfen, ungeschickt, aber nie unglücklich, weil stets vorsichtig. Der Storch aber, den man bei niedrigem, langsamem Fluge an den durch Bäume geschützten überwindigen Stellen für einen Stümper hielt, erlangt sofort eine Sicherheit und Aus- dauer im Fluge, sobald er über die Baumkronen sich erheben kann und den frischen Wind unter den Flügeln verspürt. Daran merkt man so recht, was der Wind den Vögeln ist, indem auch die jungen Störche gleich durch den Wind ver- führt werden, die anstrengenden Flügelschläge zu sparen und das Segeln zu versuchen. Durch diese unerwartete Vervollkommnung im Fluge der jungen Störche, habe ich einst meine drei besten Flieger ver- loren; denn ich glaubte an eine so schnelle Entwickelung nicht, als eine nur dreitägige Reise mich von Hause rief, und gab daher keine Anweisung, die Störche eingesperrt zu halten, obwohl die Zeit des Abzuges nahte. Bei meiner Rückkehr muſste ich denn auch leider erfahren, daſs durch den höheren Flug und die zufällig eingetretenen windigen Tage diese drei jungen Störche, die vorher den Eindruck machten, als hätten sie die gröſsten Anstrengungen bei ihren kleinen niedrigen Flügen, daſs diese Tiere plötzlich ausdauernde Flieger geworden, und schon am 31. Juli von anderen vorüberziehenden Störchen zur Mitreise verführt worden seien. Auf die an die Meinen gerichtete Frage, warum denn der hohe Flug der Störche, von dem sie doch zuerst abends wieder in den Stall zurückkehrten, keine Veranlassung gegeben habe, sie vorsichtig eingeschlossen zu halten, erhielt ich die Ant- wort: „Hättest du gesehen, wie schön unsere Störche geflogen sind, wie sie sich in den letzten Tagen in der Luft wiegend höher und höher erhoben, du hättest es selbst nicht übers Herz gebracht, sie eingesperrt zu halten und an diesen herr- lichen Bewegungen zu hindern, nach denen ihr bittender Blick aus ihren sanften schwarzen Augen verlangte“. Wir aber wollen am Storch, mit dem unsere Einleitung

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Zitationshilfe: Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lilienthal_vogelflug_1889/169>, abgerufen am 02.05.2024.