Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.scher Zucht und Sitte in der Freiheit des Vaterlandes, sprach ich in meinem Herzen dieser Zucht und Sitte Hohn. Während er krank an seinen ehrenvollen Wunden dalag, hatte ich, der er daheim seinen Namen anvertraut, mich eingewiegt in einen Selbstbetrug, zu dem meine strafbare Liebe mich verleitet. In wenigen Minuten entwickelten sich diese Ideen furchtbar klar in mir, wenige Minuten reiften das unerfahrene Mädchen plötzlich zum Weibe, und mit dieser Reife kam die Kraft der gewaltigsten Leidenschaft über mich. Das Bewußtsein meiner Schuld war der Dämon, welcher meine sanfte, stille Liebe zu maßloser Heftigkeit entzündete. Ich schrieb schnell an Schlichting. Ich erinnere mich kaum, was ich ihm gesagt habe. Es waren Worte, von denen meine Seele gar nichts wußte. Ich sah, ich empfand nichts, als meine Leidenschaft, meine Schuld und das Bedürfniß, mich von ihnen zu befreien. Ich mußte Klemenz sprechen, ihm klar machen, auf welchem Pfade wir uns befänden, und dann ihn niemals, niemals wiedersehen. Das stand fest in mir, aber ich weinte blutige Thränen schon bei dem bloßen Gedanken daran. Der Minister besaß ein Haus am Ende des Thiergartens und war vor einigen Tagen nach dieser Sommerwohnung gezogen. Seine Frau hatte mich eingeladen, dort hinaus zu kommen, und am Nachmittag jenes Tages machte ich mich auf den Weg in scher Zucht und Sitte in der Freiheit des Vaterlandes, sprach ich in meinem Herzen dieser Zucht und Sitte Hohn. Während er krank an seinen ehrenvollen Wunden dalag, hatte ich, der er daheim seinen Namen anvertraut, mich eingewiegt in einen Selbstbetrug, zu dem meine strafbare Liebe mich verleitet. In wenigen Minuten entwickelten sich diese Ideen furchtbar klar in mir, wenige Minuten reiften das unerfahrene Mädchen plötzlich zum Weibe, und mit dieser Reife kam die Kraft der gewaltigsten Leidenschaft über mich. Das Bewußtsein meiner Schuld war der Dämon, welcher meine sanfte, stille Liebe zu maßloser Heftigkeit entzündete. Ich schrieb schnell an Schlichting. Ich erinnere mich kaum, was ich ihm gesagt habe. Es waren Worte, von denen meine Seele gar nichts wußte. Ich sah, ich empfand nichts, als meine Leidenschaft, meine Schuld und das Bedürfniß, mich von ihnen zu befreien. Ich mußte Klemenz sprechen, ihm klar machen, auf welchem Pfade wir uns befänden, und dann ihn niemals, niemals wiedersehen. Das stand fest in mir, aber ich weinte blutige Thränen schon bei dem bloßen Gedanken daran. Der Minister besaß ein Haus am Ende des Thiergartens und war vor einigen Tagen nach dieser Sommerwohnung gezogen. Seine Frau hatte mich eingeladen, dort hinaus zu kommen, und am Nachmittag jenes Tages machte ich mich auf den Weg in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0094"/> scher Zucht und Sitte in der Freiheit des Vaterlandes, sprach ich in meinem Herzen dieser Zucht und Sitte Hohn. Während er krank an seinen ehrenvollen Wunden dalag, hatte ich, der er daheim seinen Namen anvertraut, mich eingewiegt in einen Selbstbetrug, zu dem meine strafbare Liebe mich verleitet.</p><lb/> <p>In wenigen Minuten entwickelten sich diese Ideen furchtbar klar in mir, wenige Minuten reiften das unerfahrene Mädchen plötzlich zum Weibe, und mit dieser Reife kam die Kraft der gewaltigsten Leidenschaft über mich. Das Bewußtsein meiner Schuld war der Dämon, welcher meine sanfte, stille Liebe zu maßloser Heftigkeit entzündete. Ich schrieb schnell an Schlichting. Ich erinnere mich kaum, was ich ihm gesagt habe. Es waren Worte, von denen meine Seele gar nichts wußte. Ich sah, ich empfand nichts, als meine Leidenschaft, meine Schuld und das Bedürfniß, mich von ihnen zu befreien. Ich mußte Klemenz sprechen, ihm klar machen, auf welchem Pfade wir uns befänden, und dann ihn niemals, niemals wiedersehen. Das stand fest in mir, aber ich weinte blutige Thränen schon bei dem bloßen Gedanken daran.</p><lb/> <p>Der Minister besaß ein Haus am Ende des Thiergartens und war vor einigen Tagen nach dieser Sommerwohnung gezogen. Seine Frau hatte mich eingeladen, dort hinaus zu kommen, und am Nachmittag jenes Tages machte ich mich auf den Weg in<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0094]
scher Zucht und Sitte in der Freiheit des Vaterlandes, sprach ich in meinem Herzen dieser Zucht und Sitte Hohn. Während er krank an seinen ehrenvollen Wunden dalag, hatte ich, der er daheim seinen Namen anvertraut, mich eingewiegt in einen Selbstbetrug, zu dem meine strafbare Liebe mich verleitet.
In wenigen Minuten entwickelten sich diese Ideen furchtbar klar in mir, wenige Minuten reiften das unerfahrene Mädchen plötzlich zum Weibe, und mit dieser Reife kam die Kraft der gewaltigsten Leidenschaft über mich. Das Bewußtsein meiner Schuld war der Dämon, welcher meine sanfte, stille Liebe zu maßloser Heftigkeit entzündete. Ich schrieb schnell an Schlichting. Ich erinnere mich kaum, was ich ihm gesagt habe. Es waren Worte, von denen meine Seele gar nichts wußte. Ich sah, ich empfand nichts, als meine Leidenschaft, meine Schuld und das Bedürfniß, mich von ihnen zu befreien. Ich mußte Klemenz sprechen, ihm klar machen, auf welchem Pfade wir uns befänden, und dann ihn niemals, niemals wiedersehen. Das stand fest in mir, aber ich weinte blutige Thränen schon bei dem bloßen Gedanken daran.
Der Minister besaß ein Haus am Ende des Thiergartens und war vor einigen Tagen nach dieser Sommerwohnung gezogen. Seine Frau hatte mich eingeladen, dort hinaus zu kommen, und am Nachmittag jenes Tages machte ich mich auf den Weg in
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/94>, abgerufen am 05.07.2024. |