heit entgegengetreten war, vor der sie erschracken, wie vor einem Gespenste, das plötzlich am hellen Tage in die Reihen der Lebenden tritt. Selbst Walter und Frau von Meining waren über- rascht. So hatte der Graf Jenny niemals singen hören; er, der ihre Seele kannte, hätte vor ihr hinsinken und sie beschwören mögen, ihm die Ursache des Schmerzes zu vertrauen, der sie erschüttert hatte. Er wollte und mußte sie sprechen, aber sie vermied seine Annäherung und verließ bald, nachdem sie gesungen hatte, die Gesellschaft. Walter begleitete sie aus dem Saale hinaus und benutzte einen Augenblick, in dem ihr Vater im Nebenzimmer von einem Bekannten angeredet wurde, zu der Bitte, Jenny möge ihm heute noch eine kurze Unter- redung gestatten, an der sein Glück und seine Hoffnung hänge. "Ihr Glück, Herr Graf", antwortete Jenny, "liegt außerhalb meiner Sphäre und Sie täuschen sich, wenn Sie es
heit entgegengetreten war, vor der ſie erſchracken, wie vor einem Geſpenſte, das plötzlich am hellen Tage in die Reihen der Lebenden tritt. Selbſt Walter und Frau von Meining waren über- raſcht. So hatte der Graf Jenny niemals ſingen hören; er, der ihre Seele kannte, hätte vor ihr hinſinken und ſie beſchwören mögen, ihm die Urſache des Schmerzes zu vertrauen, der ſie erſchüttert hatte. Er wollte und mußte ſie ſprechen, aber ſie vermied ſeine Annäherung und verließ bald, nachdem ſie geſungen hatte, die Geſellſchaft. Walter begleitete ſie aus dem Saale hinaus und benutzte einen Augenblick, in dem ihr Vater im Nebenzimmer von einem Bekannten angeredet wurde, zu der Bitte, Jenny möge ihm heute noch eine kurze Unter- redung geſtatten, an der ſein Glück und ſeine Hoffnung hänge. „Ihr Glück, Herr Graf“, antwortete Jenny, „liegt außerhalb meiner Sphäre und Sie täuſchen ſich, wenn Sie es
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heit entgegengetreten war, vor der ſie erſchracken,
wie vor einem Geſpenſte, das plötzlich am hellen
Tage in die Reihen der Lebenden tritt. Selbſt
Walter und Frau von Meining waren über-
raſcht. So hatte der Graf Jenny niemals
ſingen hören; er, der ihre Seele kannte, hätte
vor ihr hinſinken und ſie beſchwören mögen,
ihm die Urſache des Schmerzes zu vertrauen,
der ſie erſchüttert hatte. Er wollte und mußte
ſie ſprechen, aber ſie vermied ſeine Annäherung
und verließ bald, nachdem ſie geſungen hatte,
die Geſellſchaft. Walter begleitete ſie aus dem
Saale hinaus und benutzte einen Augenblick, in
dem ihr Vater im Nebenzimmer von einem
Bekannten angeredet wurde, zu der Bitte,
Jenny möge ihm heute noch eine kurze Unter-
redung geſtatten, an der ſein Glück und ſeine
Hoffnung hänge. „Ihr Glück, Herr Graf“,
antwortete Jenny, „liegt außerhalb meiner
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/270>, abgerufen am 10.05.2024.
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