nern Gewißheit, Christin geworden; daß sie ihren Vater, Reinhard und sich selbst habe hin- tergehen wollen, das war ein Verbrechen, um dessentwillen sie sich verächtlich vorkam, eine Sünde, die Gott nicht vergeben konnte. Aber was ist Sünde? fragte sie sich. Wenn ich Reinhard nicht anders glücklich machen konnte als durch eine Unwahrheit; wenn ich selbst ohne sie elend werden mußte, kann Gott ein Unrecht strafen, das aus heißer Liebe begangen wurde? Einen Augenblick fühlte sie sich frei und gerechtfertigt durch die Liebe; durch den Kampf, den es sie gekostet, aus Liebe gegen ihre Ueberzeugung zu handeln. Sie hatte aus Liebe ein Opfer gebracht, das ihr schwer ge- worden war, sie hatte sich selbst überwunden -- das war es ja gerade, was Gott von uns ver- langt -- und diese Idee gab ihr Ruhe, bis sie sich gestand, daß auch dies eine neue Unwahr- heit sei. Nicht nur, um glücklich zu machen,
nern Gewißheit, Chriſtin geworden; daß ſie ihren Vater, Reinhard und ſich ſelbſt habe hin- tergehen wollen, das war ein Verbrechen, um deſſentwillen ſie ſich verächtlich vorkam, eine Sünde, die Gott nicht vergeben konnte. Aber was iſt Sünde? fragte ſie ſich. Wenn ich Reinhard nicht anders glücklich machen konnte als durch eine Unwahrheit; wenn ich ſelbſt ohne ſie elend werden mußte, kann Gott ein Unrecht ſtrafen, das aus heißer Liebe begangen wurde? Einen Augenblick fühlte ſie ſich frei und gerechtfertigt durch die Liebe; durch den Kampf, den es ſie gekoſtet, aus Liebe gegen ihre Ueberzeugung zu handeln. Sie hatte aus Liebe ein Opfer gebracht, das ihr ſchwer ge- worden war, ſie hatte ſich ſelbſt überwunden — das war es ja gerade, was Gott von uns ver- langt — und dieſe Idee gab ihr Ruhe, bis ſie ſich geſtand, daß auch dies eine neue Unwahr- heit ſei. Nicht nur, um glücklich zu machen,
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nern Gewißheit, Chriſtin geworden; daß ſie
ihren Vater, Reinhard und ſich ſelbſt habe hin-
tergehen wollen, das war ein Verbrechen, um
deſſentwillen ſie ſich verächtlich vorkam, eine
Sünde, die Gott nicht vergeben konnte. Aber
was iſt Sünde? fragte ſie ſich. Wenn ich
Reinhard nicht anders glücklich machen konnte
als durch eine Unwahrheit; wenn ich ſelbſt
ohne ſie elend werden mußte, kann Gott ein
Unrecht ſtrafen, das aus heißer Liebe begangen
wurde? Einen Augenblick fühlte ſie ſich frei
und gerechtfertigt durch die Liebe; durch den
Kampf, den es ſie gekoſtet, aus Liebe gegen
ihre Ueberzeugung zu handeln. Sie hatte aus
Liebe ein Opfer gebracht, das ihr ſchwer ge-
worden war, ſie hatte ſich ſelbſt überwunden —
das war es ja gerade, was Gott von uns ver-
langt — und dieſe Idee gab ihr Ruhe, bis ſie
ſich geſtand, daß auch dies eine neue Unwahr-
heit ſei. Nicht nur, um glücklich zu machen,
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/132>, abgerufen am 25.11.2024.
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