Gott ist die Wahrheit, das Recht, das Gute und das Schöne, hatte ihr Vater ihr stets ge- sagt, und so lange Du das Recht thust, so lange Du wahr bleibst, bist Du Gottes Kind und mein liebes Kind! Stundenlang konnte die Erinnerung an diese freundlichen Worte, bei denen sie sich sonst so glücklich gefühlt, sie jetzt quälen. Nachdem sie damit angefangen hatte, unwahr gegen sich selbst zu sein, hatte sie, durch eine damals unfreiwillige Selbsttäu- schung von ihrem Vater die Erlaubniß erlangt, zum Christenthume überzutreten, an das sie zu glauben wähnte. Als aber tausend Zweifel in ihr erwachten; als sie mit aller Anstrengung und dem Aufwande von tausend Scheingrün- den in sich die Lehren Reinhard's und des Pastors zu motiviren strebte; da, sagte sie sich jetzt, da habe sie gewußt, daß sie niemals werde glauben können, was sich gegen ihre Vernunft sträube; und daß sie dennoch, trotz dieser in-
II. 6
Gott iſt die Wahrheit, das Recht, das Gute und das Schöne, hatte ihr Vater ihr ſtets ge- ſagt, und ſo lange Du das Recht thuſt, ſo lange Du wahr bleibſt, biſt Du Gottes Kind und mein liebes Kind! Stundenlang konnte die Erinnerung an dieſe freundlichen Worte, bei denen ſie ſich ſonſt ſo glücklich gefühlt, ſie jetzt quälen. Nachdem ſie damit angefangen hatte, unwahr gegen ſich ſelbſt zu ſein, hatte ſie, durch eine damals unfreiwillige Selbſttäu- ſchung von ihrem Vater die Erlaubniß erlangt, zum Chriſtenthume überzutreten, an das ſie zu glauben wähnte. Als aber tauſend Zweifel in ihr erwachten; als ſie mit aller Anſtrengung und dem Aufwande von tauſend Scheingrün- den in ſich die Lehren Reinhard's und des Paſtors zu motiviren ſtrebte; da, ſagte ſie ſich jetzt, da habe ſie gewußt, daß ſie niemals werde glauben können, was ſich gegen ihre Vernunft ſträube; und daß ſie dennoch, trotz dieſer in-
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Gott iſt die Wahrheit, das Recht, das Gute
und das Schöne, hatte ihr Vater ihr ſtets ge-
ſagt, und ſo lange Du das Recht thuſt, ſo
lange Du wahr bleibſt, biſt Du Gottes Kind
und mein liebes Kind! Stundenlang konnte
die Erinnerung an dieſe freundlichen Worte,
bei denen ſie ſich ſonſt ſo glücklich gefühlt, ſie
jetzt quälen. Nachdem ſie damit angefangen
hatte, unwahr gegen ſich ſelbſt zu ſein, hatte
ſie, durch eine damals unfreiwillige Selbſttäu-
ſchung von ihrem Vater die Erlaubniß erlangt,
zum Chriſtenthume überzutreten, an das ſie zu
glauben wähnte. Als aber tauſend Zweifel in
ihr erwachten; als ſie mit aller Anſtrengung
und dem Aufwande von tauſend Scheingrün-
den in ſich die Lehren Reinhard's und des
Paſtors zu motiviren ſtrebte; da, ſagte ſie ſich
jetzt, da habe ſie gewußt, daß ſie niemals werde
glauben können, was ſich gegen ihre Vernunft
ſträube; und daß ſie dennoch, trotz dieſer in-
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/131>, abgerufen am 25.11.2024.
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