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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843.

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decken oder irgend Jemandem, hieße Reinhard
verlieren; denn nur als Christin konnte sie die
Seine werden, konnte er ihr gehören. Sie er-
schien sich ärmer als der Aermste jener Hun-
derte, die in Lumpen gehüllt, aber gewiß ru-
hig im Geiste neben ihr herschritten. Was
hatte sie verbrochen, um so schwer geprüft zu
werden? Die sorglose Freudigkeit, mit der sie
an Gott gedacht und das Rechte gethan, hatte
ihr Reinhard geraubt und sie auf Lehren ge-
wiesen, die ihr bis jetzt nicht die geringste Be-
ruhigung boten und sie den qualvollsten innern
Kämpfen preisgaben. Vater und Mutter
sollte sie verlassen, sich von dem Bruder, von
allen Freunden trennen. Sie sollte Reinhard
folgen nach einem Orte, den sie nicht kannte,
und der, vielleicht fern von der Heimat, öde
und traurig sein würde. Sie dachte an ihr
helles, sonniges Zimmer, an das Treibhaus,
an all jenen Comfort des Lebens, den sie nie

decken oder irgend Jemandem, hieße Reinhard
verlieren; denn nur als Chriſtin konnte ſie die
Seine werden, konnte er ihr gehören. Sie er-
ſchien ſich ärmer als der Aermſte jener Hun-
derte, die in Lumpen gehüllt, aber gewiß ru-
hig im Geiſte neben ihr herſchritten. Was
hatte ſie verbrochen, um ſo ſchwer geprüft zu
werden? Die ſorgloſe Freudigkeit, mit der ſie
an Gott gedacht und das Rechte gethan, hatte
ihr Reinhard geraubt und ſie auf Lehren ge-
wieſen, die ihr bis jetzt nicht die geringſte Be-
ruhigung boten und ſie den qualvollſten innern
Kämpfen preisgaben. Vater und Mutter
ſollte ſie verlaſſen, ſich von dem Bruder, von
allen Freunden trennen. Sie ſollte Reinhard
folgen nach einem Orte, den ſie nicht kannte,
und der, vielleicht fern von der Heimat, öde
und traurig ſein würde. Sie dachte an ihr
helles, ſonniges Zimmer, an das Treibhaus,
an all jenen Comfort des Lebens, den ſie nie

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[320/0328] decken oder irgend Jemandem, hieße Reinhard verlieren; denn nur als Chriſtin konnte ſie die Seine werden, konnte er ihr gehören. Sie er- ſchien ſich ärmer als der Aermſte jener Hun- derte, die in Lumpen gehüllt, aber gewiß ru- hig im Geiſte neben ihr herſchritten. Was hatte ſie verbrochen, um ſo ſchwer geprüft zu werden? Die ſorgloſe Freudigkeit, mit der ſie an Gott gedacht und das Rechte gethan, hatte ihr Reinhard geraubt und ſie auf Lehren ge- wieſen, die ihr bis jetzt nicht die geringſte Be- ruhigung boten und ſie den qualvollſten innern Kämpfen preisgaben. Vater und Mutter ſollte ſie verlaſſen, ſich von dem Bruder, von allen Freunden trennen. Sie ſollte Reinhard folgen nach einem Orte, den ſie nicht kannte, und der, vielleicht fern von der Heimat, öde und traurig ſein würde. Sie dachte an ihr helles, ſonniges Zimmer, an das Treibhaus, an all jenen Comfort des Lebens, den ſie nie

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/328>, abgerufen am 10.05.2024.