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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843.

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und wünschte doch sehnlich, Jemandem zu be-
gegnen, der sie beschütze, da sie sich fürchtete,
unter dem Gewühl der Männer und Frauen,
die jetzt um die sechste Stunde von der Arbeit
heimkehrten. Wenn die Mutter wüßte, daß
der Unterricht so lange gedauert; daß sie nun
im Dämmerlichte, in der fernen Vorstadt ganz
allein auf der Straße sei, ganz einsam und
verlassen, wo Niemand sie kannte, noch fern
von Reinhard und so weit von den Ihrigen:
wie besorgt würde sie sein! sagte sie sich; und
-- rief es in ihr -- was ist dies Verlassen
sein gegen die geistige Vereinsamung, in der
ich mich befinde? Durch einen Eid will ich
mich in wenigen Wochen lossagen von dem
Glauben meiner Väter, den ich begreife und
heilig halte, und zu einer Religion übertreten,
gegen welche meine Ueberzeugung sich noch im-
mer sträubt. Das kann Gott nicht wollen,
das wäre Sünde. Aber sich Reinhard ent-

und wünſchte doch ſehnlich, Jemandem zu be-
gegnen, der ſie beſchütze, da ſie ſich fürchtete,
unter dem Gewühl der Männer und Frauen,
die jetzt um die ſechste Stunde von der Arbeit
heimkehrten. Wenn die Mutter wüßte, daß
der Unterricht ſo lange gedauert; daß ſie nun
im Dämmerlichte, in der fernen Vorſtadt ganz
allein auf der Straße ſei, ganz einſam und
verlaſſen, wo Niemand ſie kannte, noch fern
von Reinhard und ſo weit von den Ihrigen:
wie beſorgt würde ſie ſein! ſagte ſie ſich; und
— rief es in ihr — was iſt dies Verlaſſen
ſein gegen die geiſtige Vereinſamung, in der
ich mich befinde? Durch einen Eid will ich
mich in wenigen Wochen losſagen von dem
Glauben meiner Väter, den ich begreife und
heilig halte, und zu einer Religion übertreten,
gegen welche meine Ueberzeugung ſich noch im-
mer ſträubt. Das kann Gott nicht wollen,
das wäre Sünde. Aber ſich Reinhard ent-

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[319/0327] und wünſchte doch ſehnlich, Jemandem zu be- gegnen, der ſie beſchütze, da ſie ſich fürchtete, unter dem Gewühl der Männer und Frauen, die jetzt um die ſechste Stunde von der Arbeit heimkehrten. Wenn die Mutter wüßte, daß der Unterricht ſo lange gedauert; daß ſie nun im Dämmerlichte, in der fernen Vorſtadt ganz allein auf der Straße ſei, ganz einſam und verlaſſen, wo Niemand ſie kannte, noch fern von Reinhard und ſo weit von den Ihrigen: wie beſorgt würde ſie ſein! ſagte ſie ſich; und — rief es in ihr — was iſt dies Verlaſſen ſein gegen die geiſtige Vereinſamung, in der ich mich befinde? Durch einen Eid will ich mich in wenigen Wochen losſagen von dem Glauben meiner Väter, den ich begreife und heilig halte, und zu einer Religion übertreten, gegen welche meine Ueberzeugung ſich noch im- mer ſträubt. Das kann Gott nicht wollen, das wäre Sünde. Aber ſich Reinhard ent-

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/327>, abgerufen am 25.11.2024.