rissen, weil man sie gleichfalls für fremde Federn gehalten? So geht es dem Plagiarius. Man er- tappt ihn hier, man ertappt ihn da; und endlich glaubt man, daß er auch das, was wirklich sein ei- gen ist, gestohlen habe. (S. die sechste Fabel mei- nes zweyten Buchs.)
Oder man verändert einzelne Umstände in der Fabel. Wie wenn das Stücke Fleisch, welches der Fuchs dem Raben aus dem Schnabel schmeichelte, vergiftet gewesen wär? (S. die funfzehnte) Wie wenn der Mann die erfrorne Schlange nicht aus Barmherzigkeit, sondern aus Begierde ihre schöne Haut zu haben, aufgehoben und in den Busen gesteckt hätte? Hätte sich der Mann auch alsdenn noch über den Undank der Schlange beklagen können? (S. die dritte Fabel.)
Oder man nimmt auch den merkwürdigsten Um- stand aus der Fabel heraus, und bauet auf denselben eine ganz neue Fabel. Dem Wolfe ist ein Bein in dem Schlunde stecken geblieben. In der kurzen Zeit, da er sich daran würgte, hatten die Schafe also vor ihm Friede. Aber durfte sich der Wolf die gezwun- gene Enthaltung als eine gute That anrechnen?
(S. die
riſſen, weil man ſie gleichfalls für fremde Federn gehalten? So geht es dem Plagiarius. Man er- tappt ihn hier, man ertappt ihn da; und endlich glaubt man, daß er auch das, was wirklich ſein ei- gen iſt, geſtohlen habe. (S. die ſechſte Fabel mei- nes zweyten Buchs.)
Oder man verändert einzelne Umſtände in der Fabel. Wie wenn das Stücke Fleiſch, welches der Fuchs dem Raben aus dem Schnabel ſchmeichelte, vergiftet geweſen wär? (S. die funfzehnte) Wie wenn der Mann die erfrorne Schlange nicht aus Barmherzigkeit, ſondern aus Begierde ihre ſchöne Haut zu haben, aufgehoben und in den Buſen geſteckt hätte? Hätte ſich der Mann auch alsdenn noch über den Undank der Schlange beklagen können? (S. die dritte Fabel.)
Oder man nimmt auch den merkwürdigſten Um- ſtand aus der Fabel heraus, und bauet auf denſelben eine ganz neue Fabel. Dem Wolfe iſt ein Bein in dem Schlunde ſtecken geblieben. In der kurzen Zeit, da er ſich daran würgte, hatten die Schafe alſo vor ihm Friede. Aber durfte ſich der Wolf die gezwun- gene Enthaltung als eine gute That anrechnen?
(S. die
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tappt ihn hier, man ertappt ihn da; und endlich
glaubt man, daß er auch das, was wirklich ſein ei-
gen iſt, geſtohlen habe. (S. die ſechſte Fabel mei-
nes zweyten Buchs.)
Oder man verändert einzelne Umſtände in der
Fabel. Wie wenn das Stücke Fleiſch, welches der
Fuchs dem Raben aus dem Schnabel ſchmeichelte,
vergiftet geweſen wär? (S. die funfzehnte) Wie
wenn der Mann die erfrorne Schlange nicht aus
Barmherzigkeit, ſondern aus Begierde ihre ſchöne
Haut zu haben, aufgehoben und in den Buſen geſteckt
hätte? Hätte ſich der Mann auch alsdenn noch über
den Undank der Schlange beklagen können? (S.
die dritte Fabel.)
Oder man nimmt auch den merkwürdigſten Um-
ſtand aus der Fabel heraus, und bauet auf denſelben
eine ganz neue Fabel. Dem Wolfe iſt ein Bein in
dem Schlunde ſtecken geblieben. In der kurzen Zeit,
da er ſich daran würgte, hatten die Schafe alſo vor ihm
Friede. Aber durfte ſich der Wolf die gezwun-
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/259>, abgerufen am 06.07.2024.
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