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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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die anschauende Erkenntniß erfordert unumgänglich,
daß wir den einzeln Fall auf einmal übersehen kön-
nen; können wir es nicht, weil er entweder allzu-
viel Theile hat, oder seine Theile allzuweit ausein-
ander liegen, so kann auch die Intuition des All-
gemeinen nicht erfolgen. Und nur dieses, wenn
ich nicht sehr irre, ist der wahre Grund, warum
man es dem dramatischen Dichter, noch williger
aber dem Epopeendichter, erlassen hat, in ihre Wer-
ke eine einzige Hauptlehre zu legen. Denn was
hilft es, wenn sie auch eine hineinlegen? Wir kön-
nen sie doch nicht darinn erkennen, weil ihre Werke
viel zu weitläuftig sind, als daß wir sie auf einmal
zu übersehen vermöchten. In dem Squelette der-
selben müßte sie sich wohl endlich zeigen; aber das
Squelett gehöret für den kalten Kunstrichter, und
wenn dieser einmal glaubt, daß eine solche Haupt-
lehre darinn liegen müsse, so wird er sie gewiß her-
ausgrübeln, wenn sie der Dichter auch gleich nicht
hinein gelegt hat. Daß übrigens das eingeschränkte
Wesen der Thiere von dieser nicht zu erlaubenden
Ausdehnung der aesopischen Fabel, die wahre Ur-

sach

die anſchauende Erkenntniß erfordert unumgänglich,
daß wir den einzeln Fall auf einmal überſehen kön-
nen; können wir es nicht, weil er entweder allzu-
viel Theile hat, oder ſeine Theile allzuweit ausein-
ander liegen, ſo kann auch die Intuition des All-
gemeinen nicht erfolgen. Und nur dieſes, wenn
ich nicht ſehr irre, iſt der wahre Grund, warum
man es dem dramatiſchen Dichter, noch williger
aber dem Epopeendichter, erlaſſen hat, in ihre Wer-
ke eine einzige Hauptlehre zu legen. Denn was
hilft es, wenn ſie auch eine hineinlegen? Wir kön-
nen ſie doch nicht darinn erkennen, weil ihre Werke
viel zu weitläuftig ſind, als daß wir ſie auf einmal
zu überſehen vermöchten. In dem Squelette der-
ſelben müßte ſie ſich wohl endlich zeigen; aber das
Squelett gehöret für den kalten Kunſtrichter, und
wenn dieſer einmal glaubt, daß eine ſolche Haupt-
lehre darinn liegen müſſe, ſo wird er ſie gewiß her-
ausgrübeln, wenn ſie der Dichter auch gleich nicht
hinein gelegt hat. Daß übrigens das eingeſchränkte
Weſen der Thiere von dieſer nicht zu erlaubenden
Ausdehnung der aeſopiſchen Fabel, die wahre Ur-

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[212/0232] die anſchauende Erkenntniß erfordert unumgänglich, daß wir den einzeln Fall auf einmal überſehen kön- nen; können wir es nicht, weil er entweder allzu- viel Theile hat, oder ſeine Theile allzuweit ausein- ander liegen, ſo kann auch die Intuition des All- gemeinen nicht erfolgen. Und nur dieſes, wenn ich nicht ſehr irre, iſt der wahre Grund, warum man es dem dramatiſchen Dichter, noch williger aber dem Epopeendichter, erlaſſen hat, in ihre Wer- ke eine einzige Hauptlehre zu legen. Denn was hilft es, wenn ſie auch eine hineinlegen? Wir kön- nen ſie doch nicht darinn erkennen, weil ihre Werke viel zu weitläuftig ſind, als daß wir ſie auf einmal zu überſehen vermöchten. In dem Squelette der- ſelben müßte ſie ſich wohl endlich zeigen; aber das Squelett gehöret für den kalten Kunſtrichter, und wenn dieſer einmal glaubt, daß eine ſolche Haupt- lehre darinn liegen müſſe, ſo wird er ſie gewiß her- ausgrübeln, wenn ſie der Dichter auch gleich nicht hinein gelegt hat. Daß übrigens das eingeſchränkte Weſen der Thiere von dieſer nicht zu erlaubenden Ausdehnung der aeſopiſchen Fabel, die wahre Ur- ſach

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/232>, abgerufen am 02.05.2024.