die anschauende Erkenntniß erfordert unumgänglich, daß wir den einzeln Fall auf einmal übersehen kön- nen; können wir es nicht, weil er entweder allzu- viel Theile hat, oder seine Theile allzuweit ausein- ander liegen, so kann auch die Intuition des All- gemeinen nicht erfolgen. Und nur dieses, wenn ich nicht sehr irre, ist der wahre Grund, warum man es dem dramatischen Dichter, noch williger aber dem Epopeendichter, erlassen hat, in ihre Wer- ke eine einzige Hauptlehre zu legen. Denn was hilft es, wenn sie auch eine hineinlegen? Wir kön- nen sie doch nicht darinn erkennen, weil ihre Werke viel zu weitläuftig sind, als daß wir sie auf einmal zu übersehen vermöchten. In dem Squelette der- selben müßte sie sich wohl endlich zeigen; aber das Squelett gehöret für den kalten Kunstrichter, und wenn dieser einmal glaubt, daß eine solche Haupt- lehre darinn liegen müsse, so wird er sie gewiß her- ausgrübeln, wenn sie der Dichter auch gleich nicht hinein gelegt hat. Daß übrigens das eingeschränkte Wesen der Thiere von dieser nicht zu erlaubenden Ausdehnung der aesopischen Fabel, die wahre Ur-
sach
die anſchauende Erkenntniß erfordert unumgänglich, daß wir den einzeln Fall auf einmal überſehen kön- nen; können wir es nicht, weil er entweder allzu- viel Theile hat, oder ſeine Theile allzuweit ausein- ander liegen, ſo kann auch die Intuition des All- gemeinen nicht erfolgen. Und nur dieſes, wenn ich nicht ſehr irre, iſt der wahre Grund, warum man es dem dramatiſchen Dichter, noch williger aber dem Epopeendichter, erlaſſen hat, in ihre Wer- ke eine einzige Hauptlehre zu legen. Denn was hilft es, wenn ſie auch eine hineinlegen? Wir kön- nen ſie doch nicht darinn erkennen, weil ihre Werke viel zu weitläuftig ſind, als daß wir ſie auf einmal zu überſehen vermöchten. In dem Squelette der- ſelben müßte ſie ſich wohl endlich zeigen; aber das Squelett gehöret für den kalten Kunſtrichter, und wenn dieſer einmal glaubt, daß eine ſolche Haupt- lehre darinn liegen müſſe, ſo wird er ſie gewiß her- ausgrübeln, wenn ſie der Dichter auch gleich nicht hinein gelegt hat. Daß übrigens das eingeſchränkte Weſen der Thiere von dieſer nicht zu erlaubenden Ausdehnung der aeſopiſchen Fabel, die wahre Ur-
ſach
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0232"n="212"/>
die anſchauende Erkenntniß erfordert unumgänglich,<lb/>
daß wir den einzeln Fall auf einmal überſehen kön-<lb/>
nen; können wir es nicht, weil er entweder allzu-<lb/>
viel Theile hat, oder ſeine Theile allzuweit ausein-<lb/>
ander liegen, ſo kann auch die Intuition des All-<lb/>
gemeinen nicht erfolgen. Und nur dieſes, wenn<lb/>
ich nicht ſehr irre, iſt der wahre Grund, warum<lb/>
man es dem dramatiſchen Dichter, noch williger<lb/>
aber dem Epopeendichter, erlaſſen hat, in ihre Wer-<lb/>
ke eine einzige Hauptlehre zu legen. Denn was<lb/>
hilft es, wenn ſie auch eine hineinlegen? Wir kön-<lb/>
nen ſie doch nicht darinn erkennen, weil ihre Werke<lb/>
viel zu weitläuftig ſind, als daß wir ſie auf einmal<lb/>
zu überſehen vermöchten. In dem Squelette der-<lb/>ſelben müßte ſie ſich wohl endlich zeigen; aber das<lb/>
Squelett gehöret für den kalten Kunſtrichter, und<lb/>
wenn dieſer einmal glaubt, daß eine ſolche Haupt-<lb/>
lehre darinn liegen müſſe, ſo wird er ſie gewiß her-<lb/>
ausgrübeln, wenn ſie der Dichter auch gleich nicht<lb/>
hinein gelegt hat. Daß übrigens das eingeſchränkte<lb/>
Weſen der Thiere von dieſer nicht zu erlaubenden<lb/>
Ausdehnung der aeſopiſchen Fabel, die wahre Ur-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſach</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[212/0232]
die anſchauende Erkenntniß erfordert unumgänglich,
daß wir den einzeln Fall auf einmal überſehen kön-
nen; können wir es nicht, weil er entweder allzu-
viel Theile hat, oder ſeine Theile allzuweit ausein-
ander liegen, ſo kann auch die Intuition des All-
gemeinen nicht erfolgen. Und nur dieſes, wenn
ich nicht ſehr irre, iſt der wahre Grund, warum
man es dem dramatiſchen Dichter, noch williger
aber dem Epopeendichter, erlaſſen hat, in ihre Wer-
ke eine einzige Hauptlehre zu legen. Denn was
hilft es, wenn ſie auch eine hineinlegen? Wir kön-
nen ſie doch nicht darinn erkennen, weil ihre Werke
viel zu weitläuftig ſind, als daß wir ſie auf einmal
zu überſehen vermöchten. In dem Squelette der-
ſelben müßte ſie ſich wohl endlich zeigen; aber das
Squelett gehöret für den kalten Kunſtrichter, und
wenn dieſer einmal glaubt, daß eine ſolche Haupt-
lehre darinn liegen müſſe, ſo wird er ſie gewiß her-
ausgrübeln, wenn ſie der Dichter auch gleich nicht
hinein gelegt hat. Daß übrigens das eingeſchränkte
Weſen der Thiere von dieſer nicht zu erlaubenden
Ausdehnung der aeſopiſchen Fabel, die wahre Ur-
ſach
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/232>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.