Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

Bild:
<< vorherige Seite

sach nicht sey, hätte der kritische Briefsteller gleich
daher abnehmen können, weil nicht bloß die thieri-
sche
Fabel, sondern auch jede andere aesopische Fabel,
wenn sie schon aus vernünftigen Wesen bestehet, der-
selben unfähig ist. Die Fabel von dem Lahmen und
Blinden, oder von dem armen Manne und dem Tode,
läßt sich eben so wenig zur Länge des epischen Ge-
dichts erstrecken, als die Fabel von dem Lamme und
dem Wolfe, oder von dem Fuchse und dem Raben.
Kann es also an der Natur der Thiere liegen? Und
wenn man mit Beyspielen streiten wollte, wie viel
sehr gute Fabeln liessen sich ihm nicht entgegen
setzen, in welchen den Thieren weit mehr, als flüch-
tige und dunkle Strahlen einer Vernunft
bey-
gelegt wird, und man sie ihre Anschläge ziemlich von
weiten her
zu einem Endzwecke anwenden siehet.
Z. E. der Adler und der Käfer*; der Adler, die
Katze und das Schwein etc. **.

Unterdessen, dachte ich einsmals bey mir selbst,
wenn man dem ohngeachtet eine aesopische Fabel
von einer ungewöhnlichen Länge machen wollte, wie

müßte
* Fab. Aesop. 2.
** Phaedrus libr. II. Fab. 4.
O 3

ſach nicht ſey, hätte der kritiſche Briefſteller gleich
daher abnehmen können, weil nicht bloß die thieri-
ſche
Fabel, ſondern auch jede andere aeſopiſche Fabel,
wenn ſie ſchon aus vernünftigen Weſen beſtehet, der-
ſelben unfähig iſt. Die Fabel von dem Lahmen und
Blinden, oder von dem armen Manne und dem Tode,
läßt ſich eben ſo wenig zur Länge des epiſchen Ge-
dichts erſtrecken, als die Fabel von dem Lamme und
dem Wolfe, oder von dem Fuchſe und dem Raben.
Kann es alſo an der Natur der Thiere liegen? Und
wenn man mit Beyſpielen ſtreiten wollte, wie viel
ſehr gute Fabeln lieſſen ſich ihm nicht entgegen
ſetzen, in welchen den Thieren weit mehr, als flüch-
tige und dunkle Strahlen einer Vernunft
bey-
gelegt wird, und man ſie ihre Anſchläge ziemlich von
weiten her
zu einem Endzwecke anwenden ſiehet.
Z. E. der Adler und der Käfer*; der Adler, die
Katze und das Schwein ꝛc. **.

Unterdeſſen, dachte ich einsmals bey mir ſelbſt,
wenn man dem ohngeachtet eine aeſopiſche Fabel
von einer ungewöhnlichen Länge machen wollte, wie

müßte
* Fab. Aeſop. 2.
** Phædrus libr. II. Fab. 4.
O 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0233" n="213"/>
&#x017F;ach nicht &#x017F;ey, hätte der <hi rendition="#fr">kriti&#x017F;che Brief&#x017F;teller</hi> gleich<lb/>
daher abnehmen können, weil nicht bloß die <hi rendition="#fr">thieri-<lb/>
&#x017F;che</hi> Fabel, &#x017F;ondern auch jede andere ae&#x017F;opi&#x017F;che Fabel,<lb/>
wenn &#x017F;ie &#x017F;chon aus vernünftigen We&#x017F;en be&#x017F;tehet, der-<lb/>
&#x017F;elben unfähig i&#x017F;t. Die Fabel von dem Lahmen und<lb/>
Blinden, oder von dem armen Manne und dem Tode,<lb/>
läßt &#x017F;ich eben &#x017F;o wenig zur Länge des epi&#x017F;chen Ge-<lb/>
dichts er&#x017F;trecken, als die Fabel von dem Lamme und<lb/>
dem Wolfe, oder von dem Fuch&#x017F;e und dem Raben.<lb/>
Kann es al&#x017F;o an der Natur der Thiere liegen? Und<lb/>
wenn man mit Bey&#x017F;pielen &#x017F;treiten wollte, wie viel<lb/><hi rendition="#fr">&#x017F;ehr gute</hi> Fabeln lie&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich ihm nicht entgegen<lb/>
&#x017F;etzen, in welchen den Thieren weit mehr, als <hi rendition="#fr">flüch-<lb/>
tige und dunkle Strahlen einer Vernunft</hi> bey-<lb/>
gelegt wird, und man &#x017F;ie ihre An&#x017F;chläge ziemlich <hi rendition="#fr">von<lb/>
weiten her</hi> zu einem Endzwecke anwenden &#x017F;iehet.<lb/>
Z. E. der Adler und der Käfer<note place="foot" n="*"><hi rendition="#aq">Fab. Ae&#x017F;op.</hi> 2.</note>; der Adler, die<lb/>
Katze und das Schwein &#xA75B;c. <note place="foot" n="**"><hi rendition="#aq">Phædrus libr. II. Fab.</hi> 4.</note>.</p><lb/>
          <p>Unterde&#x017F;&#x017F;en, dachte ich einsmals bey mir &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
wenn man dem ohngeachtet eine ae&#x017F;opi&#x017F;che Fabel<lb/>
von einer ungewöhnlichen Länge machen wollte, wie<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O 3</fw><fw place="bottom" type="catch">müßte</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[213/0233] ſach nicht ſey, hätte der kritiſche Briefſteller gleich daher abnehmen können, weil nicht bloß die thieri- ſche Fabel, ſondern auch jede andere aeſopiſche Fabel, wenn ſie ſchon aus vernünftigen Weſen beſtehet, der- ſelben unfähig iſt. Die Fabel von dem Lahmen und Blinden, oder von dem armen Manne und dem Tode, läßt ſich eben ſo wenig zur Länge des epiſchen Ge- dichts erſtrecken, als die Fabel von dem Lamme und dem Wolfe, oder von dem Fuchſe und dem Raben. Kann es alſo an der Natur der Thiere liegen? Und wenn man mit Beyſpielen ſtreiten wollte, wie viel ſehr gute Fabeln lieſſen ſich ihm nicht entgegen ſetzen, in welchen den Thieren weit mehr, als flüch- tige und dunkle Strahlen einer Vernunft bey- gelegt wird, und man ſie ihre Anſchläge ziemlich von weiten her zu einem Endzwecke anwenden ſiehet. Z. E. der Adler und der Käfer *; der Adler, die Katze und das Schwein ꝛc. **. Unterdeſſen, dachte ich einsmals bey mir ſelbſt, wenn man dem ohngeachtet eine aeſopiſche Fabel von einer ungewöhnlichen Länge machen wollte, wie müßte * Fab. Aeſop. 2. ** Phædrus libr. II. Fab. 4. O 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/233
Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/233>, abgerufen am 22.11.2024.