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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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ner Absicht bequemer fand, als alle andere Indi-
vidua. Ist dieses; denken, reden und thun sie
durchaus nichts, was ein ander Individuum von
einem andern, oder gar ohne Charakter, eben so gut
denken, reden und thun könnte: so wird uns ihr
Betragen im geringsten nicht befreinden, wenn es
auch noch so viel Witz, Scharfsinnigkeit und Ver-
nunft voraussetzt. Und wie könnte es auch? Ha-
ben wir ihnen einmal Freyheit und Sprache zuge-
standen, so müssen wir ihnen zugleich alle Modifi-
cationen des Willens und alle Erkenntnisse zugeste-
hen, die aus jenen Eigenschaften folgen können, auf
welchen unser Vorzug vor ihnen einzig und allein
beruhet. Nur ihren Charakter, wie gesagt, müs-
sen wir durch die ganze Fabel finden; und finden wir
diesen, so erfolgt die Illusion, daß es wirkliche
Thiere sind, ob wir sie gleich reden hören, und ob
sie gleich noch so feine Anmerkungen, noch so scharf-
sinnige Schlüsse machen. Es ist unbeschreiblich, wie
viel Sophismata non causae ut causae die Kunstrichter
in dieser Materie gemacht haben. Unter andern
der Verfasser der Critischen Briefe, wenn er

von
O

ner Abſicht bequemer fand, als alle andere Indi-
vidua. Iſt dieſes; denken, reden und thun ſie
durchaus nichts, was ein ander Individuum von
einem andern, oder gar ohne Charakter, eben ſo gut
denken, reden und thun könnte: ſo wird uns ihr
Betragen im geringſten nicht befreinden, wenn es
auch noch ſo viel Witz, Scharfſinnigkeit und Ver-
nunft vorausſetzt. Und wie könnte es auch? Ha-
ben wir ihnen einmal Freyheit und Sprache zuge-
ſtanden, ſo müſſen wir ihnen zugleich alle Modifi-
cationen des Willens und alle Erkenntniſſe zugeſte-
hen, die aus jenen Eigenſchaften folgen können, auf
welchen unſer Vorzug vor ihnen einzig und allein
beruhet. Nur ihren Charakter, wie geſagt, müſ-
ſen wir durch die ganze Fabel finden; und finden wir
dieſen, ſo erfolgt die Illuſion, daß es wirkliche
Thiere ſind, ob wir ſie gleich reden hören, und ob
ſie gleich noch ſo feine Anmerkungen, noch ſo ſcharf-
ſinnige Schlüſſe machen. Es iſt unbeſchreiblich, wie
viel Sophismata non cauſæ ut cauſæ die Kunſtrichter
in dieſer Materie gemacht haben. Unter andern
der Verfaſſer der Critiſchen Briefe, wenn er

von
O
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[209/0229] ner Abſicht bequemer fand, als alle andere Indi- vidua. Iſt dieſes; denken, reden und thun ſie durchaus nichts, was ein ander Individuum von einem andern, oder gar ohne Charakter, eben ſo gut denken, reden und thun könnte: ſo wird uns ihr Betragen im geringſten nicht befreinden, wenn es auch noch ſo viel Witz, Scharfſinnigkeit und Ver- nunft vorausſetzt. Und wie könnte es auch? Ha- ben wir ihnen einmal Freyheit und Sprache zuge- ſtanden, ſo müſſen wir ihnen zugleich alle Modifi- cationen des Willens und alle Erkenntniſſe zugeſte- hen, die aus jenen Eigenſchaften folgen können, auf welchen unſer Vorzug vor ihnen einzig und allein beruhet. Nur ihren Charakter, wie geſagt, müſ- ſen wir durch die ganze Fabel finden; und finden wir dieſen, ſo erfolgt die Illuſion, daß es wirkliche Thiere ſind, ob wir ſie gleich reden hören, und ob ſie gleich noch ſo feine Anmerkungen, noch ſo ſcharf- ſinnige Schlüſſe machen. Es iſt unbeſchreiblich, wie viel Sophismata non cauſæ ut cauſæ die Kunſtrichter in dieſer Materie gemacht haben. Unter andern der Verfaſſer der Critiſchen Briefe, wenn er von O

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/229>, abgerufen am 02.05.2024.