res. Aber wenn ich bey dem Aesopus lese *: Phasin, ote phoneenta en ta zoa, ten oin pros ton despoten eipein: "Damals, als die Thiere noch redeten, soll "das Schaf zu seinem Hirten gesagt haben:" so ist es ja wohl offenbar, daß mir der Fabulist nichts wunderbares erzehlen will; sondern vielmehr etwas, das zu der Zeit, die er mit Erlaubniß seines Lesers annimmt, dem gemeinen Lauffe der Natur vollkom- men gemäß war.
Und das ist so begreifflich, sollte ich meinen, daß ich mich schämen muß, noch ein Wort hinzuzuthun. Ich komme vielmehr sogleich auf die wahre Ursa- che, -- die ich wenigstens für die wahre halte, -- warum der Fabulist die Thiere oft zu seiner Absicht bequemer findet, als die Menschen. -- Ich setze sie in die allgemein bekannte Bestandtheit der Charaktere. -- Gesetzt auch, es wäre noch so leicht, in der Geschichte ein Exempel zu finden, in welchem sich diese oder jene moralische Wahrheit anschauend erkennen liesse. Wird sie sich deswegen von jedem, ohne Ausnahme, darinn erkennen lassen? Auch von
dem,
*Fab. Aesop. 316.
M 3
res. Aber wenn ich bey dem Aeſopus leſe *: Φασιν, ὁτε φωνεεντα ἠν τα ζωα, την ὀϊν προς τον δεσποτην εἰπειν: „Damals, als die Thiere noch redeten, ſoll „das Schaf zu ſeinem Hirten geſagt haben:„ ſo iſt es ja wohl offenbar, daß mir der Fabuliſt nichts wunderbares erzehlen will; ſondern vielmehr etwas, das zu der Zeit, die er mit Erlaubniß ſeines Leſers annimmt, dem gemeinen Lauffe der Natur vollkom- men gemäß war.
Und das iſt ſo begreifflich, ſollte ich meinen, daß ich mich ſchämen muß, noch ein Wort hinzuzuthun. Ich komme vielmehr ſogleich auf die wahre Urſa- che, — die ich wenigſtens für die wahre halte, — warum der Fabuliſt die Thiere oft zu ſeiner Abſicht bequemer findet, als die Menſchen. — Ich ſetze ſie in die allgemein bekannte Beſtandtheit der Charaktere. — Geſetzt auch, es wäre noch ſo leicht, in der Geſchichte ein Exempel zu finden, in welchem ſich dieſe oder jene moraliſche Wahrheit anſchauend erkennen lieſſe. Wird ſie ſich deswegen von jedem, ohne Ausnahme, darinn erkennen laſſen? Auch von
dem,
*Fab. Aeſop. 316.
M 3
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res. Aber wenn ich bey dem Aeſopus leſe *: Φασιν,
ὁτε φωνεεντα ἠν τα ζωα, την ὀϊν προς τον δεσποτην
εἰπειν: „Damals, als die Thiere noch redeten, ſoll
„das Schaf zu ſeinem Hirten geſagt haben:„ ſo iſt
es ja wohl offenbar, daß mir der Fabuliſt nichts
wunderbares erzehlen will; ſondern vielmehr etwas,
das zu der Zeit, die er mit Erlaubniß ſeines Leſers
annimmt, dem gemeinen Lauffe der Natur vollkom-
men gemäß war.
Und das iſt ſo begreifflich, ſollte ich meinen, daß
ich mich ſchämen muß, noch ein Wort hinzuzuthun.
Ich komme vielmehr ſogleich auf die wahre Urſa-
che, — die ich wenigſtens für die wahre halte, —
warum der Fabuliſt die Thiere oft zu ſeiner Abſicht
bequemer findet, als die Menſchen. — Ich ſetze ſie
in die allgemein bekannte Beſtandtheit der
Charaktere. — Geſetzt auch, es wäre noch ſo leicht,
in der Geſchichte ein Exempel zu finden, in welchem
ſich dieſe oder jene moraliſche Wahrheit anſchauend
erkennen lieſſe. Wird ſie ſich deswegen von jedem,
ohne Ausnahme, darinn erkennen laſſen? Auch von
dem,
* Fab. Aeſop. 316.
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/201>, abgerufen am 16.02.2025.
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