dem, der mit den Charakteren der dabey interessir- ten Personen nicht vertraut ist? Unmöglich! Und wie viel Personen sind wohl in der Geschichte so all- gemein bekannt, daß man sie nur nennen dürfte, um sogleich bey einem jeden den Begriff von der ihnen zukommenden Denkungsart und andern Eigen- schaften zu erwecken? Die umständliche Charakteri- sirung daher zu vermeiden, bey welcher es doch noch immer zweifelhaft ist, ob sie bey allen die nehmlichen Ideen hervorbringt, war man gezwun- gen, sich lieber in die kleine Sphäre derjenigen We- sen einzuschränken, von denen man es zuverlässig weis, daß auch bey den Unwissendsten ihren Be- nennungen diese und keine andere Idee entspricht. Und weil von diesen Wesen die wenigsten, ihrer Natur nach geschickt waren, die Rollen freyer We- sen über sich zu nehmen, so erweiterte man lieber die Schranken ihrer Natur, und machte sie, unter gewissen wahrscheinlichen Voraussetzungen dazu geschickt.
Man hört: Britannicus und Nero. Wie viele wissen, was sie hören? Wer war dieser. Wer jener?
In
dem, der mit den Charakteren der dabey intereſſir- ten Perſonen nicht vertraut iſt? Unmöglich! Und wie viel Perſonen ſind wohl in der Geſchichte ſo all- gemein bekannt, daß man ſie nur nennen dürfte, um ſogleich bey einem jeden den Begriff von der ihnen zukommenden Denkungsart und andern Eigen- ſchaften zu erwecken? Die umſtändliche Charakteri- ſirung daher zu vermeiden, bey welcher es doch noch immer zweifelhaft iſt, ob ſie bey allen die nehmlichen Ideen hervorbringt, war man gezwun- gen, ſich lieber in die kleine Sphäre derjenigen We- ſen einzuſchränken, von denen man es zuverläſſig weis, daß auch bey den Unwiſſendſten ihren Be- nennungen dieſe und keine andere Idee entſpricht. Und weil von dieſen Weſen die wenigſten, ihrer Natur nach geſchickt waren, die Rollen freyer We- ſen über ſich zu nehmen, ſo erweiterte man lieber die Schranken ihrer Natur, und machte ſie, unter gewiſſen wahrſcheinlichen Vorausſetzungen dazu geſchickt.
Man hört: Britannicus und Nero. Wie viele wiſſen, was ſie hören? Wer war dieſer. Wer jener?
In
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[182/0202]
dem, der mit den Charakteren der dabey intereſſir-
ten Perſonen nicht vertraut iſt? Unmöglich! Und
wie viel Perſonen ſind wohl in der Geſchichte ſo all-
gemein bekannt, daß man ſie nur nennen dürfte,
um ſogleich bey einem jeden den Begriff von der
ihnen zukommenden Denkungsart und andern Eigen-
ſchaften zu erwecken? Die umſtändliche Charakteri-
ſirung daher zu vermeiden, bey welcher es doch
noch immer zweifelhaft iſt, ob ſie bey allen die
nehmlichen Ideen hervorbringt, war man gezwun-
gen, ſich lieber in die kleine Sphäre derjenigen We-
ſen einzuſchränken, von denen man es zuverläſſig
weis, daß auch bey den Unwiſſendſten ihren Be-
nennungen dieſe und keine andere Idee entſpricht.
Und weil von dieſen Weſen die wenigſten, ihrer
Natur nach geſchickt waren, die Rollen freyer We-
ſen über ſich zu nehmen, ſo erweiterte man lieber
die Schranken ihrer Natur, und machte ſie, unter
gewiſſen wahrſcheinlichen Vorausſetzungen dazu
geſchickt.
Man hört: Britannicus und Nero. Wie viele
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/202>, abgerufen am 06.07.2024.
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