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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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(ina paramudesontai to dokein adunata legein).

War
also das der Alten ihre Denkungsart, wollten sie
den Schein der Unmöglichkeit in der Fabel so viel
als möglich vemindert wissen: so mußten sie noth-
wendig weit davon entfernt seyn, in der Fabel etwas
Wunderbares zu suchen, oder zur Absicht zu haben;
denn das Wunderbare muß sich auf diesen Schein
der Unmöglichkeit gründen.

Weiter! Das Wunderbare, sagt Breitinger
an mehr als einem Orte, sey der höchste Grad des
Neuen. Diese Neuheit aber muß das Wunderbare,
wenn es seine gehörige Wirkung auf uns thun soll,
nicht allein bloß in Ansehung seiner selbst, sondern
auch in Ansehung unsrer Vorstellungen haben. Nur
das ist wunderbar, was sich sehr selten in der Rei-
he der natürlichen Dinge eräugnet. Und nur das
Wunderbare behält seinen Eindruck auf uns, dessen
Vorstellung in der Reihe unsrer Vorstellungen eben
so selten vorkömmt. Auf einen fleissigen Bibelleser
wird das größte Wunder, das in der Schrift auf-
gezeichnet ist, den Eindruck bey weiten nicht
mehr machen, den es das erstemal auf ihn gemacht

hat.
M 2
(ἱνα παραμυδησονται το δοκειν ἀδυνατα λεγειν).

War
alſo das der Alten ihre Denkungsart, wollten ſie
den Schein der Unmöglichkeit in der Fabel ſo viel
als möglich vemindert wiſſen: ſo mußten ſie noth-
wendig weit davon entfernt ſeyn, in der Fabel etwas
Wunderbares zu ſuchen, oder zur Abſicht zu haben;
denn das Wunderbare muß ſich auf dieſen Schein
der Unmöglichkeit gründen.

Weiter! Das Wunderbare, ſagt Breitinger
an mehr als einem Orte, ſey der höchſte Grad des
Neuen. Dieſe Neuheit aber muß das Wunderbare,
wenn es ſeine gehörige Wirkung auf uns thun ſoll,
nicht allein bloß in Anſehung ſeiner ſelbſt, ſondern
auch in Anſehung unſrer Vorſtellungen haben. Nur
das iſt wunderbar, was ſich ſehr ſelten in der Rei-
he der natürlichen Dinge eräugnet. Und nur das
Wunderbare behält ſeinen Eindruck auf uns, deſſen
Vorſtellung in der Reihe unſrer Vorſtellungen eben
ſo ſelten vorkömmt. Auf einen fleiſſigen Bibelleſer
wird das größte Wunder, das in der Schrift auf-
gezeichnet iſt, den Eindruck bey weiten nicht
mehr machen, den es das erſtemal auf ihn gemacht

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[179/0199] (ἱνα παραμυδησονται το δοκειν ἀδυνατα λεγειν). War alſo das der Alten ihre Denkungsart, wollten ſie den Schein der Unmöglichkeit in der Fabel ſo viel als möglich vemindert wiſſen: ſo mußten ſie noth- wendig weit davon entfernt ſeyn, in der Fabel etwas Wunderbares zu ſuchen, oder zur Abſicht zu haben; denn das Wunderbare muß ſich auf dieſen Schein der Unmöglichkeit gründen. Weiter! Das Wunderbare, ſagt Breitinger an mehr als einem Orte, ſey der höchſte Grad des Neuen. Dieſe Neuheit aber muß das Wunderbare, wenn es ſeine gehörige Wirkung auf uns thun ſoll, nicht allein bloß in Anſehung ſeiner ſelbſt, ſondern auch in Anſehung unſrer Vorſtellungen haben. Nur das iſt wunderbar, was ſich ſehr ſelten in der Rei- he der natürlichen Dinge eräugnet. Und nur das Wunderbare behält ſeinen Eindruck auf uns, deſſen Vorſtellung in der Reihe unſrer Vorſtellungen eben ſo ſelten vorkömmt. Auf einen fleiſſigen Bibelleſer wird das größte Wunder, das in der Schrift auf- gezeichnet iſt, den Eindruck bey weiten nicht mehr machen, den es das erſtemal auf ihn gemacht hat. M 2

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/199>, abgerufen am 25.11.2024.