nicht, so liegt auch sein ganzes Fabelsystem, mit einmal, über dem Hauffen.
Wunderbar soll diese Einführung seyn? Das Wunderbare, sagt eben dieser Kunstrichter, legt den Schein der Wahrheit und Möglichkeit ab. Die- se anscheinende Unmöglichkeit also gehöret zu dem Wesen des Wunderbaren; und wie soll ich nunmehr jenen Gebrauch der Alten, den sie selbst schon zu einer Regel gemacht hatten, damit vergleichen? Die Alten nehmlich fingen ihre Fabeln am liebsten mit dem Phasi, und dem darauf folgenden Klagefalle an. Die griechischen Rhetores nennen dieses kurz, die Fabel in dem Klagefalle (tais aitiatikais) vor- tragen; und Theon, wenn er in seinen Vorübun- gen* hierauf kömmt, führet eine Stelle des Ari- stoteles an, wo der Philosoph diesen Gebrauch billiget, und es zwar deswegen für rathsamer er- kläret, sich bey Einführung einer Fabel lieber auf das Alterthum zu beruffen, als in der eigenen Per- son zu sprechen, damit man den Anschein, als erzehle man etwas unmögliches, vermindere.
(ina
* Nach der Ausgabe des Camerartus S. 28.
nicht, ſo liegt auch ſein ganzes Fabelſyſtem, mit einmal, über dem Hauffen.
Wunderbar ſoll dieſe Einführung ſeyn? Das Wunderbare, ſagt eben dieſer Kunſtrichter, legt den Schein der Wahrheit und Möglichkeit ab. Die- ſe anſcheinende Unmöglichkeit alſo gehöret zu dem Weſen des Wunderbaren; und wie ſoll ich nunmehr jenen Gebrauch der Alten, den ſie ſelbſt ſchon zu einer Regel gemacht hatten, damit vergleichen? Die Alten nehmlich fingen ihre Fabeln am liebſten mit dem Φασι, und dem darauf folgenden Klagefalle an. Die griechiſchen Rhetores nennen dieſes kurz, die Fabel in dem Klagefalle (ταις ἀιτιατικαις) vor- tragen; und Theon, wenn er in ſeinen Vorübun- gen* hierauf kömmt, führet eine Stelle des Ari- ſtoteles an, wo der Philoſoph dieſen Gebrauch billiget, und es zwar deswegen für rathſamer er- kläret, ſich bey Einführung einer Fabel lieber auf das Alterthum zu beruffen, als in der eigenen Per- ſon zu ſprechen, damit man den Anſchein, als erzehle man etwas unmögliches, vermindere.
(ἱνα
* Nach der Ausgabe des Camerartus S. 28.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0198"n="178"/>
nicht, ſo liegt auch ſein ganzes Fabelſyſtem, mit<lb/>
einmal, über dem Hauffen.</p><lb/><p>Wunderbar ſoll dieſe Einführung ſeyn? Das<lb/>
Wunderbare, ſagt eben dieſer Kunſtrichter, legt<lb/>
den Schein der Wahrheit und Möglichkeit ab. Die-<lb/>ſe anſcheinende Unmöglichkeit alſo gehöret zu dem<lb/>
Weſen des Wunderbaren; und wie ſoll ich nunmehr<lb/>
jenen Gebrauch der Alten, den ſie ſelbſt ſchon zu<lb/>
einer Regel gemacht hatten, damit vergleichen? Die<lb/>
Alten nehmlich fingen ihre Fabeln am liebſten mit<lb/>
dem Φασι, und dem darauf folgenden Klagefalle<lb/>
an. Die griechiſchen Rhetores nennen dieſes kurz,<lb/>
die Fabel in dem Klagefalle <cit><quote>(ταιςἀιτιατικαις)</quote><bibl/></cit> vor-<lb/>
tragen; und <hirendition="#fr">Theon,</hi> wenn er in ſeinen <hirendition="#fr">Vorübun-<lb/>
gen</hi><noteplace="foot"n="*">Nach der Ausgabe des Camerartus S. 28.</note> hierauf kömmt, führet eine Stelle des <hirendition="#fr">Ari-<lb/>ſtoteles</hi> an, wo der Philoſoph dieſen Gebrauch<lb/>
billiget, und es zwar deswegen für rathſamer er-<lb/>
kläret, ſich bey Einführung einer Fabel lieber auf<lb/>
das Alterthum zu beruffen, als in der eigenen Per-<lb/>ſon zu ſprechen, <hirendition="#fr">damit man den Anſchein, als<lb/>
erzehle man etwas unmögliches, vermindere.</hi></p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">(ἱνα</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[178/0198]
nicht, ſo liegt auch ſein ganzes Fabelſyſtem, mit
einmal, über dem Hauffen.
Wunderbar ſoll dieſe Einführung ſeyn? Das
Wunderbare, ſagt eben dieſer Kunſtrichter, legt
den Schein der Wahrheit und Möglichkeit ab. Die-
ſe anſcheinende Unmöglichkeit alſo gehöret zu dem
Weſen des Wunderbaren; und wie ſoll ich nunmehr
jenen Gebrauch der Alten, den ſie ſelbſt ſchon zu
einer Regel gemacht hatten, damit vergleichen? Die
Alten nehmlich fingen ihre Fabeln am liebſten mit
dem Φασι, und dem darauf folgenden Klagefalle
an. Die griechiſchen Rhetores nennen dieſes kurz,
die Fabel in dem Klagefalle (ταις ἀιτιατικαις) vor-
tragen; und Theon, wenn er in ſeinen Vorübun-
gen * hierauf kömmt, führet eine Stelle des Ari-
ſtoteles an, wo der Philoſoph dieſen Gebrauch
billiget, und es zwar deswegen für rathſamer er-
kläret, ſich bey Einführung einer Fabel lieber auf
das Alterthum zu beruffen, als in der eigenen Per-
ſon zu ſprechen, damit man den Anſchein, als
erzehle man etwas unmögliches, vermindere.
(ἱνα
* Nach der Ausgabe des Camerartus S. 28.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/198>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.