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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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Folglich muß es als wirklich betrachtet werden
und die Individualität erhalten, unter der es allein
wirklich seyn kann, wenn die anschauenden Erkennt-
niß den höchsten Grad ihrer Lebhaftigkeit erreichen,
und so mächtig, als möglich, auf den Willen wir-
ken soll.

Das Mehrere aber, das die Sittenlehre, ausser
der Erläuterung, ihren allgemeinen Schlüssen schul-
dig ist, bestehet eben in dieser ihnen zu ertheilenden
Fähigkeit auf den Willen zu wirken, die sie durch
die anschauende Erkenntniß in dem Wirklichen er-
halten, da andere Wissenschaften, denen es um die
blosse Erläuterung zu thun ist, sich mit einer gerin-
gern Lebhaftigkeit der anschauenden Erkenntniß,
deren das Besondere, als bloß möglich betrachtet,
fähig ist, begnügen.

Hier bin ich also! Die Fabel erfordert deswegen
einen wirklichen Fall, weil man in einem wirklichen
Falle mehr Bewegungsgründe und deutlicher unter-
scheiden kann, als in einem möglichen; weil das
Wirkliche eine lebhaftere Ueberzeugung mit sich füh-
ret, als das bloß Mögliche.

Aristo-
L 4

Folglich muß es als wirklich betrachtet werden
und die Individualität erhalten, unter der es allein
wirklich ſeyn kann, wenn die anſchauenden Erkennt-
niß den höchſten Grad ihrer Lebhaftigkeit erreichen,
und ſo mächtig, als möglich, auf den Willen wir-
ken ſoll.

Das Mehrere aber, das die Sittenlehre, auſſer
der Erläuterung, ihren allgemeinen Schlüſſen ſchul-
dig iſt, beſtehet eben in dieſer ihnen zu ertheilenden
Fähigkeit auf den Willen zu wirken, die ſie durch
die anſchauende Erkenntniß in dem Wirklichen er-
halten, da andere Wiſſenſchaften, denen es um die
bloſſe Erläuterung zu thun iſt, ſich mit einer gerin-
gern Lebhaftigkeit der anſchauenden Erkenntniß,
deren das Beſondere, als bloß möglich betrachtet,
fähig iſt, begnügen.

Hier bin ich alſo! Die Fabel erfordert deswegen
einen wirklichen Fall, weil man in einem wirklichen
Falle mehr Bewegungsgründe und deutlicher unter-
ſcheiden kann, als in einem möglichen; weil das
Wirkliche eine lebhaftere Ueberzeugung mit ſich füh-
ret, als das bloß Mögliche.

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L 4
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[167/0187] Folglich muß es als wirklich betrachtet werden und die Individualität erhalten, unter der es allein wirklich ſeyn kann, wenn die anſchauenden Erkennt- niß den höchſten Grad ihrer Lebhaftigkeit erreichen, und ſo mächtig, als möglich, auf den Willen wir- ken ſoll. Das Mehrere aber, das die Sittenlehre, auſſer der Erläuterung, ihren allgemeinen Schlüſſen ſchul- dig iſt, beſtehet eben in dieſer ihnen zu ertheilenden Fähigkeit auf den Willen zu wirken, die ſie durch die anſchauende Erkenntniß in dem Wirklichen er- halten, da andere Wiſſenſchaften, denen es um die bloſſe Erläuterung zu thun iſt, ſich mit einer gerin- gern Lebhaftigkeit der anſchauenden Erkenntniß, deren das Beſondere, als bloß möglich betrachtet, fähig iſt, begnügen. Hier bin ich alſo! Die Fabel erfordert deswegen einen wirklichen Fall, weil man in einem wirklichen Falle mehr Bewegungsgründe und deutlicher unter- ſcheiden kann, als in einem möglichen; weil das Wirkliche eine lebhaftere Ueberzeugung mit ſich füh- ret, als das bloß Mögliche. Ariſto- L 4

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/187>, abgerufen am 02.05.2024.