delt aus freyer Wahl und nach reifer Ueberlegung; denn er weis es, warum er verfolgt wird (
ginos- kon ou kharin dioketai
). Diese Erhebung des In- stinkts zur Vernunft, wenn ich ihm glauben soll, macht es ja eben, daß eine Begegniß aus dem Rei- che der Thiere zu einer Fabel wird. Warum wird sie es denn hier nicht? Ich sage: sie wird es deswe- gen nicht, weil ihr die Wirklichkeit fehlet. Die Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Indivi- duo zu; und es läßt sich keine Wirklichkeit ohne die Individualität gedenken. Was also hier von dem ganzen Geschlechte der Biber gesagt wird, hätte müssen nur von einem einzigen Biber gesagt werden; und alsdenn wäre es eine Fabel geworden. -- Ein ander Exempel:
"Die Affen, sagt man, bringen "zwey Junge zur Welt, wovon sie das eine sehr "heftig lieben und mit aller möglichen Sorgfalt pfle- "gen, das andere hingegen hassen und versäumen. "Durch ein sonderbares Geschick aber geschieht es, "daß die Mutter das Geliebte unter häuffigen Lieb- "kosungen erdrückt, indem das Verachtete glücklich "aufwächset *."
Auch dieses ist aus eben der Ur-
sache,
*Fab. Aesop. 268.
delt aus freyer Wahl und nach reifer Ueberlegung; denn er weis es, warum er verfolgt wird (
γινωσ- κων ȣ̍ χαριν διωκεται
). Dieſe Erhebung des In- ſtinkts zur Vernunft, wenn ich ihm glauben ſoll, macht es ja eben, daß eine Begegniß aus dem Rei- che der Thiere zu einer Fabel wird. Warum wird ſie es denn hier nicht? Ich ſage: ſie wird es deswe- gen nicht, weil ihr die Wirklichkeit fehlet. Die Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Indivi- duo zu; und es läßt ſich keine Wirklichkeit ohne die Individualität gedenken. Was alſo hier von dem ganzen Geſchlechte der Biber geſagt wird, hätte müſſen nur von einem einzigen Biber geſagt werden; und alsdenn wäre es eine Fabel geworden. — Ein ander Exempel:
„Die Affen, ſagt man, bringen „zwey Junge zur Welt, wovon ſie das eine ſehr „heftig lieben und mit aller möglichen Sorgfalt pfle- „gen, das andere hingegen haſſen und verſäumen. „Durch ein ſonderbares Geſchick aber geſchieht es, „daß die Mutter das Geliebte unter häuffigen Lieb- „koſungen erdrückt, indem das Verachtete glücklich „aufwächſet *.“
Auch dieſes iſt aus eben der Ur-
ſache,
*Fab. Aeſop. 268.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0182"n="162"/>
delt aus freyer Wahl und nach reifer Ueberlegung;<lb/>
denn er weis es, warum er verfolgt wird (</p><cit><quote>γινωσ-<lb/>κωνȣ̍χαρινδιωκεται</quote><bibl/></cit><p>). Dieſe Erhebung des In-<lb/>ſtinkts zur Vernunft, wenn ich ihm glauben ſoll,<lb/>
macht es ja eben, daß eine Begegniß aus dem Rei-<lb/>
che der Thiere zu einer Fabel wird. Warum wird<lb/>ſie es denn hier nicht? Ich ſage: ſie wird es deswe-<lb/>
gen nicht, weil ihr die <hirendition="#fr">Wirklichkeit</hi> fehlet. Die<lb/>
Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Indivi-<lb/>
duo zu; und es läßt ſich keine Wirklichkeit ohne die<lb/>
Individualität gedenken. Was alſo hier von dem<lb/>
ganzen Geſchlechte der Biber geſagt wird, hätte<lb/>
müſſen nur von einem einzigen Biber geſagt werden;<lb/>
und alsdenn wäre es eine Fabel geworden. — Ein<lb/>
ander Exempel:</p><cit><quote>„Die Affen, ſagt man, bringen<lb/>„zwey Junge zur Welt, wovon ſie das eine ſehr<lb/>„heftig lieben und mit aller möglichen Sorgfalt pfle-<lb/>„gen, das andere hingegen haſſen und verſäumen.<lb/>„Durch ein ſonderbares Geſchick aber geſchieht es,<lb/>„daß die Mutter das Geliebte unter häuffigen Lieb-<lb/>„koſungen erdrückt, indem das Verachtete glücklich<lb/>„aufwächſet <noteplace="foot"n="*"><hirendition="#aq">Fab. Aeſop.</hi> 268.</note>.“</quote><bibl/></cit><p>Auch dieſes iſt aus eben der Ur-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſache,</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[162/0182]
delt aus freyer Wahl und nach reifer Ueberlegung;
denn er weis es, warum er verfolgt wird (
γινωσ-
κων ȣ̍ χαριν διωκεται). Dieſe Erhebung des In-
ſtinkts zur Vernunft, wenn ich ihm glauben ſoll,
macht es ja eben, daß eine Begegniß aus dem Rei-
che der Thiere zu einer Fabel wird. Warum wird
ſie es denn hier nicht? Ich ſage: ſie wird es deswe-
gen nicht, weil ihr die Wirklichkeit fehlet. Die
Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Indivi-
duo zu; und es läßt ſich keine Wirklichkeit ohne die
Individualität gedenken. Was alſo hier von dem
ganzen Geſchlechte der Biber geſagt wird, hätte
müſſen nur von einem einzigen Biber geſagt werden;
und alsdenn wäre es eine Fabel geworden. — Ein
ander Exempel:
„Die Affen, ſagt man, bringen
„zwey Junge zur Welt, wovon ſie das eine ſehr
„heftig lieben und mit aller möglichen Sorgfalt pfle-
„gen, das andere hingegen haſſen und verſäumen.
„Durch ein ſonderbares Geſchick aber geſchieht es,
„daß die Mutter das Geliebte unter häuffigen Lieb-
„koſungen erdrückt, indem das Verachtete glücklich
„aufwächſet *.“ Auch dieſes iſt aus eben der Ur-
ſache,
* Fab. Aeſop. 268.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/182>, abgerufen am 28.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.