"Der Biber ist ein vierfüssiges Thier, das meistens "im Wasser wohnet, und dessen Geilen in der Me- "dicin von grossem Nutzen sind. Wenn nun dieses "Thier von den Menschen verfolgt wird, und ihnen "nicht mehr entkommen kann; was thut es? Es "beißt sich selbst die Geilen ab, und wirft sie seinen "Verfolgern zu. Denn es weis gar wohl, daß "man ihm nur dieserwegen nachstellet, und es sein "Leben und seine Freyheit wohlfeiler nicht erkaufen "kann *."
-- Ist das eine Fabel? Es liegt wenig- stens eine vortreffliche Moral darinn. Und dennoch wird sich niemand bedenken, ihr den Namen einer Fabel abzusprechen. Nur über die Ursache, warum er ihr abzusprechen sey, werden sich vielleicht die meisten bedenken, und uns doch endlich eine falsche angeben. Es ist nichts als eine Naturgeschichte: würde man vielleicht mit dem Verfasser der Criti- schen Briefe** sagen. Aber gleichwohl, würde ich mit eben diesem Verfasser antworten, handelt hier der Biber nicht aus blossem Instinkt, er han-
delt
*Fab. Aesop. 33.
** Critische Briefe. Zürich 1746. S. 168.
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„Der Biber iſt ein vierfüſſiges Thier, das meiſtens „im Waſſer wohnet, und deſſen Geilen in der Me- „dicin von groſſem Nutzen ſind. Wenn nun dieſes „Thier von den Menſchen verfolgt wird, und ihnen „nicht mehr entkommen kann; was thut es? Es „beißt ſich ſelbſt die Geilen ab, und wirft ſie ſeinen „Verfolgern zu. Denn es weis gar wohl, daß „man ihm nur dieſerwegen nachſtellet, und es ſein „Leben und ſeine Freyheit wohlfeiler nicht erkaufen „kann *.“
— Iſt das eine Fabel? Es liegt wenig- ſtens eine vortreffliche Moral darinn. Und dennoch wird ſich niemand bedenken, ihr den Namen einer Fabel abzuſprechen. Nur über die Urſache, warum er ihr abzuſprechen ſey, werden ſich vielleicht die meiſten bedenken, und uns doch endlich eine falſche angeben. Es iſt nichts als eine Naturgeſchichte: würde man vielleicht mit dem Verfaſſer der Criti- ſchen Briefe** ſagen. Aber gleichwohl, würde ich mit eben dieſem Verfaſſer antworten, handelt hier der Biber nicht aus bloſſem Inſtinkt, er han-
delt
*Fab. Aeſop. 33.
** Critiſche Briefe. Zürich 1746. S. 168.
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„Der Biber iſt ein vierfüſſiges Thier, das meiſtens
„im Waſſer wohnet, und deſſen Geilen in der Me-
„dicin von groſſem Nutzen ſind. Wenn nun dieſes
„Thier von den Menſchen verfolgt wird, und ihnen
„nicht mehr entkommen kann; was thut es? Es
„beißt ſich ſelbſt die Geilen ab, und wirft ſie ſeinen
„Verfolgern zu. Denn es weis gar wohl, daß
„man ihm nur dieſerwegen nachſtellet, und es ſein
„Leben und ſeine Freyheit wohlfeiler nicht erkaufen
„kann *.“ — Iſt das eine Fabel? Es liegt wenig-
ſtens eine vortreffliche Moral darinn. Und dennoch
wird ſich niemand bedenken, ihr den Namen einer
Fabel abzuſprechen. Nur über die Urſache, warum
er ihr abzuſprechen ſey, werden ſich vielleicht die
meiſten bedenken, und uns doch endlich eine falſche
angeben. Es iſt nichts als eine Naturgeſchichte:
würde man vielleicht mit dem Verfaſſer der Criti-
ſchen Briefe ** ſagen. Aber gleichwohl, würde
ich mit eben dieſem Verfaſſer antworten, handelt
hier der Biber nicht aus bloſſem Inſtinkt, er han-
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* Fab. Aeſop. 33.
** Critiſche Briefe. Zürich 1746. S. 168.
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/181>, abgerufen am 06.07.2024.
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