Quos immolatos victor avidis dentibus Capacis alvi mersit tartareo specu.
Diese Fabel ist ungleich schöner. Wodurch ist sie es aber anders geworden, als dadurch, daß der Dich- ter die Moral bestimmter und fruchtbarer angenom- men hat? Er hat das Bestreben nach einer eiteln Größe, und nicht die Größe überhaupt, zu seinem Gegenstande gewählet; und nur durch dieses Be- streben, durch diese eitle Größe, ist natürlicher Weise auch in seine Fabel das Leben gekommen, das uns so sehr in ihr gefällt.
Ueberhaupt hat Batteux die Handlung der Ae- sopischen Fabel, mit der Handlung der Epopee und des Drama viel zu sehr verwirrt. Die Handlung der beyden letztern muß außer der Absicht, welche der Dichter damit verbindet, auch eine innere, ihr selbst zukommende Absicht haben. Die Handlung der erstern braucht diese innere Absicht nicht, und sie ist vollkommen genug, wenn nur der Dichter seine Absicht damit erreichet. Der heroische und drama- tische Dichter machen die Erregung der Leidenschaf-
ten
K 5
Quos immolatos victor avidis dentibus Capacis alvi merſit tartareo ſpecu.
Dieſe Fabel iſt ungleich ſchöner. Wodurch iſt ſie es aber anders geworden, als dadurch, daß der Dich- ter die Moral beſtimmter und fruchtbarer angenom- men hat? Er hat das Beſtreben nach einer eiteln Größe, und nicht die Größe überhaupt, zu ſeinem Gegenſtande gewählet; und nur durch dieſes Be- ſtreben, durch dieſe eitle Größe, iſt natürlicher Weiſe auch in ſeine Fabel das Leben gekommen, das uns ſo ſehr in ihr gefällt.
Ueberhaupt hat Batteux die Handlung der Ae- ſopiſchen Fabel, mit der Handlung der Epopee und des Drama viel zu ſehr verwirrt. Die Handlung der beyden letztern muß außer der Abſicht, welche der Dichter damit verbindet, auch eine innere, ihr ſelbſt zukommende Abſicht haben. Die Handlung der erſtern braucht dieſe innere Abſicht nicht, und ſie iſt vollkommen genug, wenn nur der Dichter ſeine Abſicht damit erreichet. Der heroiſche und drama- tiſche Dichter machen die Erregung der Leidenſchaf-
ten
K 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><cit><quote><hirendition="#et"><pbfacs="#f0173"n="153"/><hirendition="#aq">Quos immolatos victor avidis dentibus<lb/>
Capacis alvi merſit tartareo ſpecu.</hi></hi></quote><bibl/></cit><lb/><p>Dieſe Fabel iſt ungleich ſchöner. Wodurch iſt ſie es<lb/>
aber anders geworden, als dadurch, daß der Dich-<lb/>
ter die Moral beſtimmter und fruchtbarer angenom-<lb/>
men hat? Er hat das <hirendition="#fr">Beſtreben</hi> nach einer eiteln<lb/>
Größe, und nicht die Größe überhaupt, zu ſeinem<lb/>
Gegenſtande gewählet; und nur durch dieſes <hirendition="#fr">Be-<lb/>ſtreben</hi>, durch dieſe eitle Größe, iſt natürlicher<lb/>
Weiſe auch in ſeine Fabel das Leben gekommen, das<lb/>
uns ſo ſehr in ihr gefällt.</p><lb/><p>Ueberhaupt hat <hirendition="#fr">Batteux</hi> die Handlung der Ae-<lb/>ſopiſchen Fabel, mit der Handlung der Epopee und<lb/>
des Drama viel zu ſehr verwirrt. Die Handlung<lb/>
der beyden letztern muß außer der Abſicht, welche<lb/>
der Dichter damit verbindet, auch eine innere, ihr<lb/>ſelbſt zukommende Abſicht haben. Die Handlung<lb/>
der erſtern braucht dieſe innere Abſicht nicht, und<lb/>ſie iſt vollkommen genug, wenn nur der Dichter ſeine<lb/>
Abſicht damit erreichet. Der heroiſche und drama-<lb/>
tiſche Dichter machen die Erregung der Leidenſchaf-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">K 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">ten</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[153/0173]
Quos immolatos victor avidis dentibus
Capacis alvi merſit tartareo ſpecu.
Dieſe Fabel iſt ungleich ſchöner. Wodurch iſt ſie es
aber anders geworden, als dadurch, daß der Dich-
ter die Moral beſtimmter und fruchtbarer angenom-
men hat? Er hat das Beſtreben nach einer eiteln
Größe, und nicht die Größe überhaupt, zu ſeinem
Gegenſtande gewählet; und nur durch dieſes Be-
ſtreben, durch dieſe eitle Größe, iſt natürlicher
Weiſe auch in ſeine Fabel das Leben gekommen, das
uns ſo ſehr in ihr gefällt.
Ueberhaupt hat Batteux die Handlung der Ae-
ſopiſchen Fabel, mit der Handlung der Epopee und
des Drama viel zu ſehr verwirrt. Die Handlung
der beyden letztern muß außer der Abſicht, welche
der Dichter damit verbindet, auch eine innere, ihr
ſelbſt zukommende Abſicht haben. Die Handlung
der erſtern braucht dieſe innere Abſicht nicht, und
ſie iſt vollkommen genug, wenn nur der Dichter ſeine
Abſicht damit erreichet. Der heroiſche und drama-
tiſche Dichter machen die Erregung der Leidenſchaf-
ten
K 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/173>, abgerufen am 06.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.