Batteux, wie ich wohl darauf wetten wollte, hat bey seiner Erklärung nur die erste Fabel des Phädrus vor Augen gehabt; die er, mehr als ein- mal, une des plus belles & des plus celebres de l'an- tiquite nennet. Es ist wahr, in dieser ist die Hand- lung ein Unternehmen, das mit Wahl und Absicht geschiehet. Der Wolf nimmt sich vor, das Schaf zu zerreissen,
fauce improba incitatus;
er will es aber nicht so plump zu, er will es mit einem Schei- ne des Rechts thun, und also
jurgii causam intulit.
-- Ich spreche dieser Fabel ihr Lob nicht ab; sie ist so vollkommen, als sie nur seyn kann. Allein sie ist nicht deswegen vollkommen, weil ihre Handlung ein Unternehmen ist, das mit Wahl und Absicht geschiehet; sondern weil sie ihrer Moral, die von einem solchen Unternehmen spricht, ein völliges Genüge thut. Die Moral ist *:
ois prothesis adi- kein, par' autois ou dikaiologia iskhuei.
Wer den Vorsatz hat, einen Unschuldigen zu unterdrücken, der wird es zwar
meth' eulogou aitias
zu thun suchen; er wird einen scheinbaren Vorwand wählen; aber
sich
*Fab. Aesop. 230.
Batteux, wie ich wohl darauf wetten wollte, hat bey ſeiner Erklärung nur die erſte Fabel des Phädrus vor Augen gehabt; die er, mehr als ein- mal, une des plus belles & des plus celebres de l’an- tiquité nennet. Es iſt wahr, in dieſer iſt die Hand- lung ein Unternehmen, das mit Wahl und Abſicht geſchiehet. Der Wolf nimmt ſich vor, das Schaf zu zerreiſſen,
fauce improba incitatus;
er will es aber nicht ſo plump zu, er will es mit einem Schei- ne des Rechts thun, und alſo
jurgii cauſam intulit.
— Ich ſpreche dieſer Fabel ihr Lob nicht ab; ſie iſt ſo vollkommen, als ſie nur ſeyn kann. Allein ſie iſt nicht deswegen vollkommen, weil ihre Handlung ein Unternehmen iſt, das mit Wahl und Abſicht geſchiehet; ſondern weil ſie ihrer Moral, die von einem ſolchen Unternehmen ſpricht, ein völliges Genüge thut. Die Moral iſt *:
Wer den Vorſatz hat, einen Unſchuldigen zu unterdrücken, der wird es zwar
μεϑ᾽ ἐυλογου ἀιτιας
zu thun ſuchen; er wird einen ſcheinbaren Vorwand wählen; aber
ſich
*Fab. Aeſop. 230.
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Batteux, wie ich wohl darauf wetten wollte,
hat bey ſeiner Erklärung nur die erſte Fabel des
Phädrus vor Augen gehabt; die er, mehr als ein-
mal, une des plus belles & des plus celebres de l’an-
tiquité nennet. Es iſt wahr, in dieſer iſt die Hand-
lung ein Unternehmen, das mit Wahl und Abſicht
geſchiehet. Der Wolf nimmt ſich vor, das Schaf
zu zerreiſſen,
fauce improba incitatus; er will es
aber nicht ſo plump zu, er will es mit einem Schei-
ne des Rechts thun, und alſo
jurgii cauſam intulit. —
Ich ſpreche dieſer Fabel ihr Lob nicht ab; ſie iſt ſo
vollkommen, als ſie nur ſeyn kann. Allein ſie iſt
nicht deswegen vollkommen, weil ihre Handlung
ein Unternehmen iſt, das mit Wahl und Abſicht
geſchiehet; ſondern weil ſie ihrer Moral, die von
einem ſolchen Unternehmen ſpricht, ein völliges
Genüge thut. Die Moral iſt *:
ὁις προϑεσις ἀδι-
κειν, παρ᾿ ἀυτοις ȣ̍ δικαιολογια ἰσχυει. Wer den
Vorſatz hat, einen Unſchuldigen zu unterdrücken,
der wird es zwar
μεϑ᾽ ἐυλογου ἀιτιας zu thun ſuchen;
er wird einen ſcheinbaren Vorwand wählen; aber
ſich
* Fab. Aeſop. 230.
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/168>, abgerufen am 16.02.2025.
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