[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769]. Lycast. Nein, gewiß nicht. Jch habe meinen Vater gar nicht lieb. Jch müßte es lügen, wenn ich es sagen wollte. Leander. Unmenschlicher Sohn! Du bedenkst nicht, was du sagst. Denjenigen nicht lieben, der dir das Leben gegeben hat! So sprichst du itzt, da du ihn noch leben siehst. Aber verliere ihn einmal; hernach will ich dich fragen. Lycast. Hm! Jch weis nun eben nicht, was da geschehen würde. Auf allen Fall würde ich wohl auch sogar unrecht nicht thun. Denn ich glaube, er würde es auch nicht besser machen. Er spricht ja fast täglich zu mir: "Wenn ich dich nur los wäre! wenn [du] nur weg wärest!" Heißt das Liebe? Kanst du verlangen, daß ich ihn wie- der lieben soll? Auch die strengste Zucht müßte ein Kind zu ihren
Lycaſt. Nein, gewiß nicht. Jch habe meinen Vater gar nicht lieb. Jch müßte es lügen, wenn ich es ſagen wollte. Leander. Unmenſchlicher Sohn! Du bedenkſt nicht, was du ſagſt. Denjenigen nicht lieben, der dir das Leben gegeben hat! So ſprichſt du itzt, da du ihn noch leben ſiehſt. Aber verliere ihn einmal; hernach will ich dich fragen. Lycaſt. Hm! Jch weis nun eben nicht, was da geſchehen würde. Auf allen Fall würde ich wohl auch ſogar unrecht nicht thun. Denn ich glaube, er würde es auch nicht beſſer machen. Er ſpricht ja faſt täglich zu mir: „Wenn ich dich nur los wäre! wenn [du] nur weg wäreſt!„ Heißt das Liebe? Kanſt du verlangen, daß ich ihn wie- der lieben ſoll? Auch die ſtrengſte Zucht müßte ein Kind zu ihren
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Lycaſt. Nein, gewiß nicht. Jch habe meinen
Vater gar nicht lieb. Jch müßte es lügen, wenn
ich es ſagen wollte.
Leander. Unmenſchlicher Sohn! Du bedenkſt
nicht, was du ſagſt. Denjenigen nicht lieben, der
dir das Leben gegeben hat! So ſprichſt du itzt, da
du ihn noch leben ſiehſt. Aber verliere ihn einmal;
hernach will ich dich fragen.
Lycaſt. Hm! Jch weis nun eben nicht, was
da geſchehen würde. Auf allen Fall würde ich
wohl auch ſogar unrecht nicht thun. Denn ich
glaube, er würde es auch nicht beſſer machen.
Er ſpricht ja faſt täglich zu mir: „Wenn ich dich
nur los wäre! wenn du nur weg wäreſt!„ Heißt
das Liebe? Kanſt du verlangen, daß ich ihn wie-
der lieben ſoll?
Auch die ſtrengſte Zucht müßte ein Kind zu
ſo unnatürlichen Geſinnungen nicht verleiten.
Das Herz, das ihrer, aus irgend einer Urſache,
fähig iſt, verdienet nicht anders als ſklaviſch
gehalten zu werden. Wenn wir uns des aus-
ſchweifenden Sohnes gegen den ſtrengen Vater
annehmen ſollen: ſo müſſen jenes Ausſchwei-
fungen kein grundböſes Herz verrathen; es müſ-
ſen nichts als Ausſchweifungen des Tempera-
ments, jugendliche Unbedachtſamkeiten, Thor-
heiten des Kitzels und Muthwillens ſeyn. Nach
dieſem Grundſatze haben Menander und Terenz
ihren
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