Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

möglich zu erleichtern, seine Kräfte nicht an
Nebenzwecke zu verschwenden, sondern sie ganz
für den Hauptzweck zu sparen. Auch ihm
kömmt auf die Jllusion des Zuschauers alles
an. -- Man wird vielleicht hierauf antworten,
daß die Tragödie der Sitten nicht groß bedürfe;
daß sie ihrer ganz und gar entübriget seyn könne.
Aber sonach braucht sie auch keine fremde Sit-
ten; und von dem Wenigen, was sie von Sitten
haben und zeigen will, wird es doch immer bes-
ser seyn, wenn es von einheimischen Sitten her-
genommen ist, als von fremden.

Die Griechen wenigstens haben nie andere
als ihre eigene Sitten, nicht blos in der Ko-
mödie, sondern auch in der Tragödie, zum
Grunde gelegt. Ja sie haben fremden Völ-
kern, aus deren Geschichte sie den Stoff ihrer
Tragödie etwa einmal entlehnten, lieber ihre
eigenen griechischen Sitten leihen, als die Wir-
kungen der Bühne durch unverständliche barba-
rische Sitten entkräften wollen. Auf das Co-
stume, welches unsern tragischen Dichtern so
ängstlich empfohlen wird, hielten sie wenig oder
nichts. Der Beweis hiervon können vornehm-
lich die Perserinnen des Aeschylus seyn; und
die Ursache, warum sie sich so wenig an das
Costume binden zu dürfen glaubten, ist aus der
Absicht der Tragödie leicht zu folgern.

Doch
Y y 2

möglich zu erleichtern, ſeine Kräfte nicht an
Nebenzwecke zu verſchwenden, ſondern ſie ganz
für den Hauptzweck zu ſparen. Auch ihm
kömmt auf die Jlluſion des Zuſchauers alles
an. — Man wird vielleicht hierauf antworten,
daß die Tragödie der Sitten nicht groß bedürfe;
daß ſie ihrer ganz und gar entübriget ſeyn könne.
Aber ſonach braucht ſie auch keine fremde Sit-
ten; und von dem Wenigen, was ſie von Sitten
haben und zeigen will, wird es doch immer beſ-
ſer ſeyn, wenn es von einheimiſchen Sitten her-
genommen iſt, als von fremden.

Die Griechen wenigſtens haben nie andere
als ihre eigene Sitten, nicht blos in der Ko-
mödie, ſondern auch in der Tragödie, zum
Grunde gelegt. Ja ſie haben fremden Völ-
kern, aus deren Geſchichte ſie den Stoff ihrer
Tragödie etwa einmal entlehnten, lieber ihre
eigenen griechiſchen Sitten leihen, als die Wir-
kungen der Bühne durch unverſtändliche barba-
riſche Sitten entkräften wollen. Auf das Co-
ſtume, welches unſern tragiſchen Dichtern ſo
ängſtlich empfohlen wird, hielten ſie wenig oder
nichts. Der Beweis hiervon können vornehm-
lich die Perſerinnen des Aeſchylus ſeyn; und
die Urſache, warum ſie ſich ſo wenig an das
Coſtume binden zu dürfen glaubten, iſt aus der
Abſicht der Tragödie leicht zu folgern.

Doch
Y y 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0361" n="355"/>
möglich zu erleichtern, &#x017F;eine Kräfte nicht an<lb/>
Nebenzwecke zu ver&#x017F;chwenden, &#x017F;ondern &#x017F;ie ganz<lb/>
für den Hauptzweck zu &#x017F;paren. Auch ihm<lb/>
kömmt auf die Jllu&#x017F;ion des Zu&#x017F;chauers alles<lb/>
an. &#x2014; Man wird vielleicht hierauf antworten,<lb/>
daß die Tragödie der Sitten nicht groß bedürfe;<lb/>
daß &#x017F;ie ihrer ganz und gar entübriget &#x017F;eyn könne.<lb/>
Aber &#x017F;onach braucht &#x017F;ie auch keine fremde Sit-<lb/>
ten; und von dem Wenigen, was &#x017F;ie von Sitten<lb/>
haben und zeigen will, wird es doch immer be&#x017F;-<lb/>
&#x017F;er &#x017F;eyn, wenn es von einheimi&#x017F;chen Sitten her-<lb/>
genommen i&#x017F;t, als von fremden.</p><lb/>
        <p>Die Griechen wenig&#x017F;tens haben nie andere<lb/>
als ihre eigene Sitten, nicht blos in der Ko-<lb/>
mödie, &#x017F;ondern auch in der Tragödie, zum<lb/>
Grunde gelegt. Ja &#x017F;ie haben fremden Völ-<lb/>
kern, aus deren Ge&#x017F;chichte &#x017F;ie den Stoff ihrer<lb/>
Tragödie etwa einmal entlehnten, lieber ihre<lb/>
eigenen griechi&#x017F;chen Sitten leihen, als die Wir-<lb/>
kungen der Bühne durch unver&#x017F;tändliche barba-<lb/>
ri&#x017F;che Sitten entkräften wollen. Auf das Co-<lb/>
&#x017F;tume, welches un&#x017F;ern tragi&#x017F;chen Dichtern &#x017F;o<lb/>
äng&#x017F;tlich empfohlen wird, hielten &#x017F;ie wenig oder<lb/>
nichts. Der Beweis hiervon können vornehm-<lb/>
lich die Per&#x017F;erinnen des Ae&#x017F;chylus &#x017F;eyn; und<lb/>
die Ur&#x017F;ache, warum &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;o wenig an das<lb/>
Co&#x017F;tume binden zu dürfen glaubten, i&#x017F;t aus der<lb/>
Ab&#x017F;icht der Tragödie leicht zu folgern.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">Y y 2</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">Doch</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[355/0361] möglich zu erleichtern, ſeine Kräfte nicht an Nebenzwecke zu verſchwenden, ſondern ſie ganz für den Hauptzweck zu ſparen. Auch ihm kömmt auf die Jlluſion des Zuſchauers alles an. — Man wird vielleicht hierauf antworten, daß die Tragödie der Sitten nicht groß bedürfe; daß ſie ihrer ganz und gar entübriget ſeyn könne. Aber ſonach braucht ſie auch keine fremde Sit- ten; und von dem Wenigen, was ſie von Sitten haben und zeigen will, wird es doch immer beſ- ſer ſeyn, wenn es von einheimiſchen Sitten her- genommen iſt, als von fremden. Die Griechen wenigſtens haben nie andere als ihre eigene Sitten, nicht blos in der Ko- mödie, ſondern auch in der Tragödie, zum Grunde gelegt. Ja ſie haben fremden Völ- kern, aus deren Geſchichte ſie den Stoff ihrer Tragödie etwa einmal entlehnten, lieber ihre eigenen griechiſchen Sitten leihen, als die Wir- kungen der Bühne durch unverſtändliche barba- riſche Sitten entkräften wollen. Auf das Co- ſtume, welches unſern tragiſchen Dichtern ſo ängſtlich empfohlen wird, hielten ſie wenig oder nichts. Der Beweis hiervon können vornehm- lich die Perſerinnen des Aeſchylus ſeyn; und die Urſache, warum ſie ſich ſo wenig an das Coſtume binden zu dürfen glaubten, iſt aus der Abſicht der Tragödie leicht zu folgern. Doch Y y 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/361
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/361>, abgerufen am 24.11.2024.