Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

"fähig sind. Jst sie es, so kann die Ursache
"keine andere seyn, als die ich angenommen:
"daß nehmlich Sophokles seine Cha-
"raktere so geschildert, als er, unzäh-
"ligen von ihm beobachteten Beyspie-
"len der nehmlichen Gattung zu Fol-
"ge, glaubte, daß sie seyn sollten; Eu-
"ripides aber so, als er in der enge-
"ren Sphäre seiner Beobachtungen
"erkannt hatte, daß sie wirklich wä-
"ren
. --

Vortrefflich! Auch unangesehen der Absicht,
in welcher ich diese langen Stellen des Hurd
angeführet habe, enthalten sie unstreitig so viel
feine Bemerkungen, daß es mir der Leser wohl
erlassen wird, mich wegen Einschaltung derselben
zu entschuldigen. Jch besorge nur, daß er
meine Absicht selbst darüber aus den Augen ver-
loren. Sie war aber diese: zu zeigen, daß
auch Hurd, so wie Diderot, der Tragödie
besondere, und nur der Komödie allgemeine
Charaktere zutheile, und dem ohngeachtet dem
Aristoteles nicht widersprechen wolle, welcher
das Allgemeine von allen poetischen Charakteren,
und folglich auch von den tragischen verlanget.
Hurd erklärt sich nehmlich so: der tragische
Charakter müsse zwar partikular oder weniger
allgemein seyn, als der komische, d. i. er müsse
die Art, zu welcher er gehöre, weniger vorstel-

lig
U u 3

„fähig ſind. Jſt ſie es, ſo kann die Urſache
„keine andere ſeyn, als die ich angenommen:
daß nehmlich Sophokles ſeine Cha-
„raktere ſo geſchildert, als er, unzäh-
„ligen von ihm beobachteten Beyſpie-
„len der nehmlichen Gattung zu Fol-
„ge, glaubte, daß ſie ſeyn ſollten; Eu-
„ripides aber ſo, als er in der enge-
„ren Sphäre ſeiner Beobachtungen
„erkannt hatte, daß ſie wirklich wä-
„ren
. —

Vortrefflich! Auch unangeſehen der Abſicht,
in welcher ich dieſe langen Stellen des Hurd
angeführet habe, enthalten ſie unſtreitig ſo viel
feine Bemerkungen, daß es mir der Leſer wohl
erlaſſen wird, mich wegen Einſchaltung derſelben
zu entſchuldigen. Jch beſorge nur, daß er
meine Abſicht ſelbſt darüber aus den Augen ver-
loren. Sie war aber dieſe: zu zeigen, daß
auch Hurd, ſo wie Diderot, der Tragödie
beſondere, und nur der Komödie allgemeine
Charaktere zutheile, und dem ohngeachtet dem
Ariſtoteles nicht widerſprechen wolle, welcher
das Allgemeine von allen poetiſchen Charakteren,
und folglich auch von den tragiſchen verlanget.
Hurd erklärt ſich nehmlich ſo: der tragiſche
Charakter müſſe zwar partikular oder weniger
allgemein ſeyn, als der komiſche, d. i. er müſſe
die Art, zu welcher er gehöre, weniger vorſtel-

lig
U u 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0347" n="341"/>
&#x201E;fähig &#x017F;ind. J&#x017F;t &#x017F;ie es, &#x017F;o kann die Ur&#x017F;ache<lb/>
&#x201E;keine andere &#x017F;eyn, als die ich angenommen:<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#g">daß nehmlich Sophokles &#x017F;eine Cha-<lb/>
&#x201E;raktere &#x017F;o ge&#x017F;childert, als er, unzäh-<lb/>
&#x201E;ligen von ihm beobachteten Bey&#x017F;pie-<lb/>
&#x201E;len der nehmlichen Gattung zu Fol-<lb/>
&#x201E;ge, glaubte, daß &#x017F;ie &#x017F;eyn &#x017F;ollten; Eu-<lb/>
&#x201E;ripides aber &#x017F;o, als er in der enge-<lb/>
&#x201E;ren Sphäre &#x017F;einer Beobachtungen<lb/>
&#x201E;erkannt hatte, daß &#x017F;ie wirklich wä-<lb/>
&#x201E;ren</hi>. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Vortrefflich! Auch unange&#x017F;ehen der Ab&#x017F;icht,<lb/>
in welcher ich die&#x017F;e langen Stellen des <hi rendition="#g">Hurd</hi><lb/>
angeführet habe, enthalten &#x017F;ie un&#x017F;treitig &#x017F;o viel<lb/>
feine Bemerkungen, daß es mir der Le&#x017F;er wohl<lb/>
erla&#x017F;&#x017F;en wird, mich wegen Ein&#x017F;chaltung der&#x017F;elben<lb/>
zu ent&#x017F;chuldigen. Jch be&#x017F;orge nur, daß er<lb/>
meine Ab&#x017F;icht &#x017F;elb&#x017F;t darüber aus den Augen ver-<lb/>
loren. Sie war aber die&#x017F;e: zu zeigen, daß<lb/>
auch <hi rendition="#g">Hurd</hi>, &#x017F;o wie Diderot, der Tragödie<lb/>
be&#x017F;ondere, und nur der Komödie allgemeine<lb/>
Charaktere zutheile, und dem ohngeachtet dem<lb/>
Ari&#x017F;toteles nicht wider&#x017F;prechen wolle, welcher<lb/>
das Allgemeine von allen poeti&#x017F;chen Charakteren,<lb/>
und folglich auch von den tragi&#x017F;chen verlanget.<lb/><hi rendition="#g">Hurd</hi> erklärt &#x017F;ich nehmlich &#x017F;o: der tragi&#x017F;che<lb/>
Charakter mü&#x017F;&#x017F;e zwar partikular oder weniger<lb/>
allgemein &#x017F;eyn, als der komi&#x017F;che, d. i. er mü&#x017F;&#x017F;e<lb/>
die Art, zu welcher er gehöre, weniger vor&#x017F;tel-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">U u 3</fw><fw place="bottom" type="catch">lig</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[341/0347] „fähig ſind. Jſt ſie es, ſo kann die Urſache „keine andere ſeyn, als die ich angenommen: „daß nehmlich Sophokles ſeine Cha- „raktere ſo geſchildert, als er, unzäh- „ligen von ihm beobachteten Beyſpie- „len der nehmlichen Gattung zu Fol- „ge, glaubte, daß ſie ſeyn ſollten; Eu- „ripides aber ſo, als er in der enge- „ren Sphäre ſeiner Beobachtungen „erkannt hatte, daß ſie wirklich wä- „ren. — Vortrefflich! Auch unangeſehen der Abſicht, in welcher ich dieſe langen Stellen des Hurd angeführet habe, enthalten ſie unſtreitig ſo viel feine Bemerkungen, daß es mir der Leſer wohl erlaſſen wird, mich wegen Einſchaltung derſelben zu entſchuldigen. Jch beſorge nur, daß er meine Abſicht ſelbſt darüber aus den Augen ver- loren. Sie war aber dieſe: zu zeigen, daß auch Hurd, ſo wie Diderot, der Tragödie beſondere, und nur der Komödie allgemeine Charaktere zutheile, und dem ohngeachtet dem Ariſtoteles nicht widerſprechen wolle, welcher das Allgemeine von allen poetiſchen Charakteren, und folglich auch von den tragiſchen verlanget. Hurd erklärt ſich nehmlich ſo: der tragiſche Charakter müſſe zwar partikular oder weniger allgemein ſeyn, als der komiſche, d. i. er müſſe die Art, zu welcher er gehöre, weniger vorſtel- lig U u 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/347
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/347>, abgerufen am 07.05.2024.