"sind das Abbild der Dinge; und die "Dinge das Abbild des Urbildes, wel- "ches in dem göttlichen Verstande exi- "stiret. Folglich ist der Ausdruck des "Dichters nur das Bild von dem Bil- "de eines Bildes, und liefert uns ur- "sprüngliche Wahrheit nur gleichsam "aus der dritten Hand. (*) Aber alle "diese Vernünfteley fällt weg, sobald man die "nur gedachte Regel des Dichters gehörig fasset, "und fleißig in Ausübung bringet. Denn in- "dem der Dichter von den Wesen alles abson- "dert, was allein das Jndividuum angehet und "unterscheidet, überspringet sein Begriff gleich- "sam alle die zwischen inne liegenden besondern "Gegenstände, und erhebt sich, so viel möglich, "zu dem göttlichen Urbilde, um so das unmit- "telbare Nachbild der Wahrheit zu werden. "Hieraus lernt man denn auch einsehen, was "und wie viel jenes ungewöhnliche Lob, welches "der große Kunstrichter der Dichtkunst ertheilet, "sagen wolle; daß sie, gegen die Ge- "schichte genommen, das ernstere und "philosophischere Studium sey: philo- "sophoteron kai spoudaioteron poiesis istorias "estin. Die Ursache, welche gleich darauf folgt, "ist nun gleichfalls sehr begreiflich: e men gar "poiesis mallon ta katholou, e d' istoria
"ta
(*)Plato de Repl. L. X.
„ſind das Abbild der Dinge; und die „Dinge das Abbild des Urbildes, wel- „ches in dem göttlichen Verſtande exi- „ſtiret. Folglich iſt der Ausdruck des „Dichters nur das Bild von dem Bil- „de eines Bildes, und liefert uns ur- „ſprüngliche Wahrheit nur gleichſam „aus der dritten Hand. (*) Aber alle „dieſe Vernünfteley fällt weg, ſobald man die „nur gedachte Regel des Dichters gehörig faſſet, „und fleißig in Ausübung bringet. Denn in- „dem der Dichter von den Weſen alles abſon- „dert, was allein das Jndividuum angehet und „unterſcheidet, überſpringet ſein Begriff gleich- „ſam alle die zwiſchen inne liegenden beſondern „Gegenſtände, und erhebt ſich, ſo viel möglich, „zu dem göttlichen Urbilde, um ſo das unmit- „telbare Nachbild der Wahrheit zu werden. „Hieraus lernt man denn auch einſehen, was „und wie viel jenes ungewöhnliche Lob, welches „der große Kunſtrichter der Dichtkunſt ertheilet, „ſagen wolle; daß ſie, gegen die Ge- „ſchichte genommen, das ernſtere und „philoſophiſchere Studium ſey: ϕιλο- „σοϕωτερον ϰαι σπουδαιοτερον ποιησις ἱϛοριας „ἐϛιν. Die Urſache, welche gleich darauf folgt, „iſt nun gleichfalls ſehr begreiflich: ἡ μεν γαρ „ποιησις μαλλον τα ϰαϑολου, ἡ δ᾽ ἱϛορια
„τα
(*)Plato de Repl. L. X.
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„ſind das Abbild der Dinge; und die
„Dinge das Abbild des Urbildes, wel-
„ches in dem göttlichen Verſtande exi-
„ſtiret. Folglich iſt der Ausdruck des
„Dichters nur das Bild von dem Bil-
„de eines Bildes, und liefert uns ur-
„ſprüngliche Wahrheit nur gleichſam
„aus der dritten Hand. (*) Aber alle
„dieſe Vernünfteley fällt weg, ſobald man die
„nur gedachte Regel des Dichters gehörig faſſet,
„und fleißig in Ausübung bringet. Denn in-
„dem der Dichter von den Weſen alles abſon-
„dert, was allein das Jndividuum angehet und
„unterſcheidet, überſpringet ſein Begriff gleich-
„ſam alle die zwiſchen inne liegenden beſondern
„Gegenſtände, und erhebt ſich, ſo viel möglich,
„zu dem göttlichen Urbilde, um ſo das unmit-
„telbare Nachbild der Wahrheit zu werden.
„Hieraus lernt man denn auch einſehen, was
„und wie viel jenes ungewöhnliche Lob, welches
„der große Kunſtrichter der Dichtkunſt ertheilet,
„ſagen wolle; daß ſie, gegen die Ge-
„ſchichte genommen, das ernſtere und
„philoſophiſchere Studium ſey: ϕιλο-
„σοϕωτερον ϰαι σπουδαιοτερον ποιησις ἱϛοριας
„ἐϛιν. Die Urſache, welche gleich darauf folgt,
„iſt nun gleichfalls ſehr begreiflich: ἡ μεν γαρ
„ποιησις μαλλον τα ϰαϑολου, ἡ δ᾽ ἱϛορια
„τα
(*) Plato de Repl. L. X.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/338>, abgerufen am 22.11.2024.
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