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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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"belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirk-
"lichen Natur, und nicht, wie die Jtalienische,
"von dem geistigen Jdeale der Schönheit ent-
"lehnet. (*) Jenes aber entspricht einem an-
"dern Fehler, den man gleichfalls den Nieder-
"ländischen Meistern vorwirft, und der dieser
"ist, daß sie lieber die besondere, seltsame und
"groteske, als die allgemeine und reitzende Na-
"tur, sich zum Vorbilde wählen.

"Wir sehen also, daß der Dichter, indem er
"sich von der eigenen und besondern Wahrheit
"entfernet, desto getreuer die allgemeine Wahr-
"heit nachahmet. Und hieraus ergiebt sich die
"Antwort auf jenen spitzfindigen Einwurf, den
"Plato gegen die Poesie ausgegrübelt hatte, und
"nicht ohne Selbstzufriedenheit vorzutragen
"schien. Nehmlich, daß die poetische Nach-
"ahmung uns die Wahrheit nur sehr von wei-
"tem zeigen könne. Denn, der poetische
"Ausdruck
, sagt der Philosoph, ist das
"Abbild von des Dichters eigenen Be-
"griffen; die Begriffe des Dichters

"sind
(*) Nach Maaßgebung der Antiken. Nec enim
Phidias, cum faceret Jovis formam aut
Minervae, contemplabatur aliquem e quo
similitudinem duceret: sed ipsius in men-
te incidebat species pulchritudi-
nis eximia quaedam
, quam intuens
in eaque defixus ad illius similitudinem
artem & manum dirigebat. (Cic. Or. 2.)
T t 2

„belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirk-
„lichen Natur, und nicht, wie die Jtalieniſche,
„von dem geiſtigen Jdeale der Schönheit ent-
„lehnet. (*) Jenes aber entſpricht einem an-
„dern Fehler, den man gleichfalls den Nieder-
„ländiſchen Meiſtern vorwirft, und der dieſer
„iſt, daß ſie lieber die beſondere, ſeltſame und
„groteſke, als die allgemeine und reitzende Na-
„tur, ſich zum Vorbilde wählen.

„Wir ſehen alſo, daß der Dichter, indem er
„ſich von der eigenen und beſondern Wahrheit
„entfernet, deſto getreuer die allgemeine Wahr-
„heit nachahmet. Und hieraus ergiebt ſich die
„Antwort auf jenen ſpitzfindigen Einwurf, den
„Plato gegen die Poeſie ausgegrübelt hatte, und
„nicht ohne Selbſtzufriedenheit vorzutragen
„ſchien. Nehmlich, daß die poetiſche Nach-
„ahmung uns die Wahrheit nur ſehr von wei-
„tem zeigen könne. Denn, der poetiſche
„Ausdruck
, ſagt der Philoſoph, iſt das
„Abbild von des Dichters eigenen Be-
„griffen; die Begriffe des Dichters

„ſind
(*) Nach Maaßgebung der Antiken. Nec enim
Phidias, cum faceret Jovis formam aut
Minervæ, contemplabatur aliquem e quo
ſimilitudinem duceret: ſed ipſius in men-
te incidebat ſpecies pulchritudi-
nis eximia quædam
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[331/0337] „belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirk- „lichen Natur, und nicht, wie die Jtalieniſche, „von dem geiſtigen Jdeale der Schönheit ent- „lehnet. (*) Jenes aber entſpricht einem an- „dern Fehler, den man gleichfalls den Nieder- „ländiſchen Meiſtern vorwirft, und der dieſer „iſt, daß ſie lieber die beſondere, ſeltſame und „groteſke, als die allgemeine und reitzende Na- „tur, ſich zum Vorbilde wählen. „Wir ſehen alſo, daß der Dichter, indem er „ſich von der eigenen und beſondern Wahrheit „entfernet, deſto getreuer die allgemeine Wahr- „heit nachahmet. Und hieraus ergiebt ſich die „Antwort auf jenen ſpitzfindigen Einwurf, den „Plato gegen die Poeſie ausgegrübelt hatte, und „nicht ohne Selbſtzufriedenheit vorzutragen „ſchien. Nehmlich, daß die poetiſche Nach- „ahmung uns die Wahrheit nur ſehr von wei- „tem zeigen könne. Denn, der poetiſche „Ausdruck, ſagt der Philoſoph, iſt das „Abbild von des Dichters eigenen Be- „griffen; die Begriffe des Dichters „ſind (*) Nach Maaßgebung der Antiken. Nec enim Phidias, cum faceret Jovis formam aut Minervæ, contemplabatur aliquem e quo ſimilitudinem duceret: ſed ipſius in men- te incidebat ſpecies pulchritudi- nis eximia quædam, quam intuens in eaque defixus ad illius ſimilitudinem artem & manum dirigebat. (Cic. Or. 2.) T t 2

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/337>, abgerufen am 22.11.2024.