"aufzuwärmen? Welcher vernünftige Mensch "weiß denn nicht von selbst, wie ungerecht ein "solches Vorurtheil ist?"
Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieser Umstand war allerdings zur Verwickelung mei- ner Fabel nöthig; ohne ihm würde es weit un- wahrscheinlicher gewesen seyn, daß Dorval seine Schwester nicht kennet, und seine Schwester von keinem Bruder weiß; es stand mir frey, den Titel davon zu entlehnen, und ich hätte den Titel von noch einem geringern Umstande ent- lehnen können. -- Wenn Diderot dieses ant- wortete, sag ich, wäre Palissot nicht ungefehr widerlegt?
Gleichwohl ist der Charakter des natürlichen Sohnes einem ganz andern Einwurfe blos ge- stellet, mit welchem Palissot dem Dichter weit schärfer hätte zusetzen können. Diesem nehmlich: daß der Umstand der unehelichen Geburt, und der daraus erfolgten Verlassenheit und Abson- derung, in welcher sich Dorval von allen Men- schen so viele Jahre hindurch sahe, ein viel zu eigenthümlicher und besonderer Umstand ist, gleichwohl auf die Bildung seines Charakters viel zu viel Einfluß gehabt hat, als daß dieser diejenige Allgemeinheit haben könne, welche nach der eignen Lehre des Diderot ein komischer Charakter nothwendig haben muß. -- Die Ge- legenheit reitzt mich zu einer Ausschweifung über
diese
„aufzuwärmen? Welcher vernünftige Menſch „weiß denn nicht von ſelbſt, wie ungerecht ein „ſolches Vorurtheil iſt?„
Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieſer Umſtand war allerdings zur Verwickelung mei- ner Fabel nöthig; ohne ihm würde es weit un- wahrſcheinlicher geweſen ſeyn, daß Dorval ſeine Schweſter nicht kennet, und ſeine Schweſter von keinem Bruder weiß; es ſtand mir frey, den Titel davon zu entlehnen, und ich hätte den Titel von noch einem geringern Umſtande ent- lehnen können. — Wenn Diderot dieſes ant- wortete, ſag ich, wäre Paliſſot nicht ungefehr widerlegt?
Gleichwohl iſt der Charakter des natürlichen Sohnes einem ganz andern Einwurfe blos ge- ſtellet, mit welchem Paliſſot dem Dichter weit ſchärfer hätte zuſetzen können. Dieſem nehmlich: daß der Umſtand der unehelichen Geburt, und der daraus erfolgten Verlaſſenheit und Abſon- derung, in welcher ſich Dorval von allen Men- ſchen ſo viele Jahre hindurch ſahe, ein viel zu eigenthümlicher und beſonderer Umſtand iſt, gleichwohl auf die Bildung ſeines Charakters viel zu viel Einfluß gehabt hat, als daß dieſer diejenige Allgemeinheit haben könne, welche nach der eignen Lehre des Diderot ein komiſcher Charakter nothwendig haben muß. — Die Ge- legenheit reitzt mich zu einer Ausſchweifung über
dieſe
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0280"n="274"/>„aufzuwärmen? Welcher vernünftige Menſch<lb/>„weiß denn nicht von ſelbſt, wie ungerecht ein<lb/>„ſolches Vorurtheil iſt?„</p><lb/><p>Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieſer<lb/>
Umſtand war allerdings zur Verwickelung mei-<lb/>
ner Fabel nöthig; ohne ihm würde es weit un-<lb/>
wahrſcheinlicher geweſen ſeyn, daß Dorval ſeine<lb/>
Schweſter nicht kennet, und ſeine Schweſter<lb/>
von keinem Bruder weiß; es ſtand mir frey,<lb/>
den Titel davon zu entlehnen, und ich hätte den<lb/>
Titel von noch einem geringern Umſtande ent-<lb/>
lehnen können. — Wenn Diderot dieſes ant-<lb/>
wortete, ſag ich, wäre Paliſſot nicht ungefehr<lb/>
widerlegt?</p><lb/><p>Gleichwohl iſt der Charakter des natürlichen<lb/>
Sohnes einem ganz andern Einwurfe blos ge-<lb/>ſtellet, mit welchem Paliſſot dem Dichter weit<lb/>ſchärfer hätte zuſetzen können. Dieſem nehmlich:<lb/>
daß der Umſtand der unehelichen Geburt, und<lb/>
der daraus erfolgten Verlaſſenheit und Abſon-<lb/>
derung, in welcher ſich Dorval von allen Men-<lb/>ſchen ſo viele Jahre hindurch ſahe, ein viel zu<lb/>
eigenthümlicher und beſonderer Umſtand iſt,<lb/>
gleichwohl auf die Bildung ſeines Charakters<lb/>
viel zu viel Einfluß gehabt hat, als daß dieſer<lb/>
diejenige Allgemeinheit haben könne, welche<lb/>
nach der eignen Lehre des Diderot ein komiſcher<lb/>
Charakter nothwendig haben muß. — Die Ge-<lb/>
legenheit reitzt mich zu einer Ausſchweifung über<lb/><fwplace="bottom"type="catch">dieſe</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[274/0280]
„aufzuwärmen? Welcher vernünftige Menſch
„weiß denn nicht von ſelbſt, wie ungerecht ein
„ſolches Vorurtheil iſt?„
Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieſer
Umſtand war allerdings zur Verwickelung mei-
ner Fabel nöthig; ohne ihm würde es weit un-
wahrſcheinlicher geweſen ſeyn, daß Dorval ſeine
Schweſter nicht kennet, und ſeine Schweſter
von keinem Bruder weiß; es ſtand mir frey,
den Titel davon zu entlehnen, und ich hätte den
Titel von noch einem geringern Umſtande ent-
lehnen können. — Wenn Diderot dieſes ant-
wortete, ſag ich, wäre Paliſſot nicht ungefehr
widerlegt?
Gleichwohl iſt der Charakter des natürlichen
Sohnes einem ganz andern Einwurfe blos ge-
ſtellet, mit welchem Paliſſot dem Dichter weit
ſchärfer hätte zuſetzen können. Dieſem nehmlich:
daß der Umſtand der unehelichen Geburt, und
der daraus erfolgten Verlaſſenheit und Abſon-
derung, in welcher ſich Dorval von allen Men-
ſchen ſo viele Jahre hindurch ſahe, ein viel zu
eigenthümlicher und beſonderer Umſtand iſt,
gleichwohl auf die Bildung ſeines Charakters
viel zu viel Einfluß gehabt hat, als daß dieſer
diejenige Allgemeinheit haben könne, welche
nach der eignen Lehre des Diderot ein komiſcher
Charakter nothwendig haben muß. — Die Ge-
legenheit reitzt mich zu einer Ausſchweifung über
dieſe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/280>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.