"Wenigstens, Madame, erwiederte Selim, "werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Epi- "soden uns aus der Täuschung heraus bringen, "der Dialog uns wieder herein setzt. Jch "wüßte nicht, wer das besser verstünde, als un- "sere tragische Dichter."
"Nun so versteht es durchaus niemand, ant- "wortete Mirzoza. Das Gesuchte, das Witzi- "ge, das Spielende, das darinn herrscht, ist "tausend und tausend Meilen von der Natur "entfernt. Umsonst sucht sich der Verfasser zu "verstecken; er entgeht meinen Augen nicht, und "ich erblicke ihn unauf hörlich hinter seinen "Personen. Cinna, Sertorius, Maximus, "Aemilia, sind alle Augenblicke das Sprachrohr "des Corneille. So spricht man bey unsern al- "ten Saracenen nicht mit einander. Herr Ri- "caric kann Jhnen, wenn Sie wollen, einige "Stellen daraus übersetzen; und sie werden die "bloße Natur hören, die sich durch den Mund "derselben ausdrückt. Jch möchte gar zu gern "zu den Neuern sagen: "Meine Herren, an- "statt daß ihr euern Personen bey aller Gelegen- "heit Witz gebt, so sucht sie doch lieber in Um- "stände zu setzen, die ihnen welchen geben."
"Nach dem zu urtheilen, was Madame von "dem Verlaufe und dem Dialoge unserer dra- "matischen Stücke gesagt hat, scheint es wohl
"nicht,
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„Wenigſtens, Madame, erwiederte Selim, „werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Epi- „ſoden uns aus der Täuſchung heraus bringen, „der Dialog uns wieder herein ſetzt. Jch „wüßte nicht, wer das beſſer verſtünde, als un- „ſere tragiſche Dichter.„
„Nun ſo verſteht es durchaus niemand, ant- „wortete Mirzoza. Das Geſuchte, das Witzi- „ge, das Spielende, das darinn herrſcht, iſt „tauſend und tauſend Meilen von der Natur „entfernt. Umſonſt ſucht ſich der Verfaſſer zu „verſtecken; er entgeht meinen Augen nicht, und „ich erblicke ihn unauf hörlich hinter ſeinen „Perſonen. Cinna, Sertorius, Maximus, „Aemilia, ſind alle Augenblicke das Sprachrohr „des Corneille. So ſpricht man bey unſern al- „ten Saracenen nicht mit einander. Herr Ri- „caric kann Jhnen, wenn Sie wollen, einige „Stellen daraus überſetzen; und ſie werden die „bloße Natur hören, die ſich durch den Mund „derſelben ausdrückt. Jch möchte gar zu gern „zu den Neuern ſagen: „Meine Herren, an- „ſtatt daß ihr euern Perſonen bey aller Gelegen- „heit Witz gebt, ſo ſucht ſie doch lieber in Um- „ſtände zu ſetzen, die ihnen welchen geben.„
„Nach dem zu urtheilen, was Madame von „dem Verlaufe und dem Dialoge unſerer dra- „matiſchen Stücke geſagt hat, ſcheint es wohl
„nicht,
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„Wenigſtens, Madame, erwiederte Selim,
„werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Epi-
„ſoden uns aus der Täuſchung heraus bringen,
„der Dialog uns wieder herein ſetzt. Jch
„wüßte nicht, wer das beſſer verſtünde, als un-
„ſere tragiſche Dichter.„
„Nun ſo verſteht es durchaus niemand, ant-
„wortete Mirzoza. Das Geſuchte, das Witzi-
„ge, das Spielende, das darinn herrſcht, iſt
„tauſend und tauſend Meilen von der Natur
„entfernt. Umſonſt ſucht ſich der Verfaſſer zu
„verſtecken; er entgeht meinen Augen nicht, und
„ich erblicke ihn unauf hörlich hinter ſeinen
„Perſonen. Cinna, Sertorius, Maximus,
„Aemilia, ſind alle Augenblicke das Sprachrohr
„des Corneille. So ſpricht man bey unſern al-
„ten Saracenen nicht mit einander. Herr Ri-
„caric kann Jhnen, wenn Sie wollen, einige
„Stellen daraus überſetzen; und ſie werden die
„bloße Natur hören, die ſich durch den Mund
„derſelben ausdrückt. Jch möchte gar zu gern
„zu den Neuern ſagen: „Meine Herren, an-
„ſtatt daß ihr euern Perſonen bey aller Gelegen-
„heit Witz gebt, ſo ſucht ſie doch lieber in Um-
„ſtände zu ſetzen, die ihnen welchen geben.„
„Nach dem zu urtheilen, was Madame von
„dem Verlaufe und dem Dialoge unſerer dra-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/265>, abgerufen am 22.11.2024.
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