"Jch glaube, Sie irren sich, mein Herr: "antwortete Ricaric dem Selim. Die Akade- "mie ist noch itzt das Heiligthum des guten Ge- "schmacks, und ihre schönsten Tage haben we- "der Weltweise noch Dichter auf zu weisen, de- "nen wir nicht andere aus unserer Zeit entgegen "setzen könnten. Unser Theater ward für das "erste Theater in ganz Afrika gehalten, und "wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk "ist nicht der Tamerlan des Tuxigraphe! Es "verbindet das Pathetische des Eurisope mit dem "Erhabnen des Azophe. Es ist das klare Al- "terthum!"
"Jch habe, sagte die Favoritinn, die erste "Vorstellung des Tamerlans gesehen, und "gleichfalls den Faden des Stücks sehr richtig "geführet, den Dialog sehr zierlich, und das "Anständige sehr wohl beobachtet gefunden."
"Welcher Unterschied, Madam, unterbrach "sie Ricaric, zwischen einem Verfasser wie "Tuxigraphe, der sich durch Lesung der Alten "genähret, und dem größten Theile unsrer "Neuern!"
"Aber diese Neuern, sagte Selim, die Sie "hier so wacker über die Klinge springen lassen, "sind doch bey weitem so verächtlich nicht, als "Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein "Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine "Charaktere, keine Schilderungen, keine Tira-
"den
„Jch glaube, Sie irren ſich, mein Herr: „antwortete Ricaric dem Selim. Die Akade- „mie iſt noch itzt das Heiligthum des guten Ge- „ſchmacks, und ihre ſchönſten Tage haben we- „der Weltweiſe noch Dichter auf zu weiſen, de- „nen wir nicht andere aus unſerer Zeit entgegen „ſetzen könnten. Unſer Theater ward für das „erſte Theater in ganz Afrika gehalten, und „wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk „iſt nicht der Tamerlan des Tuxigraphe! Es „verbindet das Pathetiſche des Euriſope mit dem „Erhabnen des Azophe. Es iſt das klare Al- „terthum!„
„Jch habe, ſagte die Favoritinn, die erſte „Vorſtellung des Tamerlans geſehen, und „gleichfalls den Faden des Stücks ſehr richtig „geführet, den Dialog ſehr zierlich, und das „Anſtändige ſehr wohl beobachtet gefunden.„
„Welcher Unterſchied, Madam, unterbrach „ſie Ricaric, zwiſchen einem Verfaſſer wie „Tuxigraphe, der ſich durch Leſung der Alten „genähret, und dem größten Theile unſrer „Neuern!„
„Aber dieſe Neuern, ſagte Selim, die Sie „hier ſo wacker über die Klinge ſpringen laſſen, „ſind doch bey weitem ſo verächtlich nicht, als „Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein „Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine „Charaktere, keine Schilderungen, keine Tira-
„den
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0258"n="252"/><p>„Jch glaube, Sie irren ſich, mein Herr:<lb/>„antwortete Ricaric dem Selim. Die Akade-<lb/>„mie iſt noch itzt das Heiligthum des guten Ge-<lb/>„ſchmacks, und ihre ſchönſten Tage haben we-<lb/>„der Weltweiſe noch Dichter auf zu weiſen, de-<lb/>„nen wir nicht andere aus unſerer Zeit entgegen<lb/>„ſetzen könnten. Unſer Theater ward für das<lb/>„erſte Theater in ganz Afrika gehalten, und<lb/>„wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk<lb/>„iſt nicht der Tamerlan des Tuxigraphe! Es<lb/>„verbindet das Pathetiſche des Euriſope mit dem<lb/>„Erhabnen des Azophe. Es iſt das klare Al-<lb/>„terthum!„</p><lb/><p>„Jch habe, ſagte die Favoritinn, die erſte<lb/>„Vorſtellung des Tamerlans geſehen, und<lb/>„gleichfalls den Faden des Stücks ſehr richtig<lb/>„geführet, den Dialog ſehr zierlich, und das<lb/>„Anſtändige ſehr wohl beobachtet gefunden.„</p><lb/><p>„Welcher Unterſchied, Madam, unterbrach<lb/>„ſie Ricaric, zwiſchen einem Verfaſſer wie<lb/>„Tuxigraphe, der ſich durch Leſung der Alten<lb/>„genähret, und dem größten Theile unſrer<lb/>„Neuern!„</p><lb/><p>„Aber dieſe Neuern, ſagte Selim, die Sie<lb/>„hier ſo wacker über die Klinge ſpringen laſſen,<lb/>„ſind doch bey weitem ſo verächtlich nicht, als<lb/>„Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein<lb/>„Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine<lb/>„Charaktere, keine Schilderungen, keine Tira-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">„den</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[252/0258]
„Jch glaube, Sie irren ſich, mein Herr:
„antwortete Ricaric dem Selim. Die Akade-
„mie iſt noch itzt das Heiligthum des guten Ge-
„ſchmacks, und ihre ſchönſten Tage haben we-
„der Weltweiſe noch Dichter auf zu weiſen, de-
„nen wir nicht andere aus unſerer Zeit entgegen
„ſetzen könnten. Unſer Theater ward für das
„erſte Theater in ganz Afrika gehalten, und
„wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk
„iſt nicht der Tamerlan des Tuxigraphe! Es
„verbindet das Pathetiſche des Euriſope mit dem
„Erhabnen des Azophe. Es iſt das klare Al-
„terthum!„
„Jch habe, ſagte die Favoritinn, die erſte
„Vorſtellung des Tamerlans geſehen, und
„gleichfalls den Faden des Stücks ſehr richtig
„geführet, den Dialog ſehr zierlich, und das
„Anſtändige ſehr wohl beobachtet gefunden.„
„Welcher Unterſchied, Madam, unterbrach
„ſie Ricaric, zwiſchen einem Verfaſſer wie
„Tuxigraphe, der ſich durch Leſung der Alten
„genähret, und dem größten Theile unſrer
„Neuern!„
„Aber dieſe Neuern, ſagte Selim, die Sie
„hier ſo wacker über die Klinge ſpringen laſſen,
„ſind doch bey weitem ſo verächtlich nicht, als
„Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein
„Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine
„Charaktere, keine Schilderungen, keine Tira-
„den
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/258>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.