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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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"Jch glaube, Sie irren sich, mein Herr:
"antwortete Ricaric dem Selim. Die Akade-
"mie ist noch itzt das Heiligthum des guten Ge-
"schmacks, und ihre schönsten Tage haben we-
"der Weltweise noch Dichter auf zu weisen, de-
"nen wir nicht andere aus unserer Zeit entgegen
"setzen könnten. Unser Theater ward für das
"erste Theater in ganz Afrika gehalten, und
"wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk
"ist nicht der Tamerlan des Tuxigraphe! Es
"verbindet das Pathetische des Eurisope mit dem
"Erhabnen des Azophe. Es ist das klare Al-
"terthum!"

"Jch habe, sagte die Favoritinn, die erste
"Vorstellung des Tamerlans gesehen, und
"gleichfalls den Faden des Stücks sehr richtig
"geführet, den Dialog sehr zierlich, und das
"Anständige sehr wohl beobachtet gefunden."

"Welcher Unterschied, Madam, unterbrach
"sie Ricaric, zwischen einem Verfasser wie
"Tuxigraphe, der sich durch Lesung der Alten
"genähret, und dem größten Theile unsrer
"Neuern!"

"Aber diese Neuern, sagte Selim, die Sie
"hier so wacker über die Klinge springen lassen,
"sind doch bey weitem so verächtlich nicht, als
"Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein
"Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine
"Charaktere, keine Schilderungen, keine Tira-

"den

„Jch glaube, Sie irren ſich, mein Herr:
„antwortete Ricaric dem Selim. Die Akade-
„mie iſt noch itzt das Heiligthum des guten Ge-
„ſchmacks, und ihre ſchönſten Tage haben we-
„der Weltweiſe noch Dichter auf zu weiſen, de-
„nen wir nicht andere aus unſerer Zeit entgegen
„ſetzen könnten. Unſer Theater ward für das
„erſte Theater in ganz Afrika gehalten, und
„wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk
„iſt nicht der Tamerlan des Tuxigraphe! Es
„verbindet das Pathetiſche des Euriſope mit dem
„Erhabnen des Azophe. Es iſt das klare Al-
„terthum!„

„Jch habe, ſagte die Favoritinn, die erſte
„Vorſtellung des Tamerlans geſehen, und
„gleichfalls den Faden des Stücks ſehr richtig
„geführet, den Dialog ſehr zierlich, und das
„Anſtändige ſehr wohl beobachtet gefunden.„

„Welcher Unterſchied, Madam, unterbrach
„ſie Ricaric, zwiſchen einem Verfaſſer wie
„Tuxigraphe, der ſich durch Leſung der Alten
„genähret, und dem größten Theile unſrer
„Neuern!„

„Aber dieſe Neuern, ſagte Selim, die Sie
„hier ſo wacker über die Klinge ſpringen laſſen,
„ſind doch bey weitem ſo verächtlich nicht, als
„Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein
„Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine
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[252/0258] „Jch glaube, Sie irren ſich, mein Herr: „antwortete Ricaric dem Selim. Die Akade- „mie iſt noch itzt das Heiligthum des guten Ge- „ſchmacks, und ihre ſchönſten Tage haben we- „der Weltweiſe noch Dichter auf zu weiſen, de- „nen wir nicht andere aus unſerer Zeit entgegen „ſetzen könnten. Unſer Theater ward für das „erſte Theater in ganz Afrika gehalten, und „wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk „iſt nicht der Tamerlan des Tuxigraphe! Es „verbindet das Pathetiſche des Euriſope mit dem „Erhabnen des Azophe. Es iſt das klare Al- „terthum!„ „Jch habe, ſagte die Favoritinn, die erſte „Vorſtellung des Tamerlans geſehen, und „gleichfalls den Faden des Stücks ſehr richtig „geführet, den Dialog ſehr zierlich, und das „Anſtändige ſehr wohl beobachtet gefunden.„ „Welcher Unterſchied, Madam, unterbrach „ſie Ricaric, zwiſchen einem Verfaſſer wie „Tuxigraphe, der ſich durch Leſung der Alten „genähret, und dem größten Theile unſrer „Neuern!„ „Aber dieſe Neuern, ſagte Selim, die Sie „hier ſo wacker über die Klinge ſpringen laſſen, „ſind doch bey weitem ſo verächtlich nicht, als „Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein „Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine „Charaktere, keine Schilderungen, keine Tira- „den

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/258>, abgerufen am 28.04.2024.