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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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"den bey ihnen? Was bekümmere ich mich um
"Regeln, wenn man mir nur Vergnügen macht?
"Es sind wahrlich nicht die Bemerkungen des
"weisen Almudir und des gelehrten Abdaldok,
"noch die Dichtkunst des scharfsinnigen Facar-
"din, die ich alle nicht gelesen habe, welche es
"machen, daß ich die Stücke des Aboulcazem,
"des Muhardar, des Albaboukre, und so vieler
"andren Saracenen bewundrer! Giebt es denn
"auch eine andere Regel, als die Nachahmung
"der Natur? Und haben wir nicht eben die
"Augen, mit welchen diese sie studierten?"

"Die Natur, antwortete Ricaric, zeiget sich
"uns alle Augenblicke in verschiednen Gestalten.
"Alle sind wahr, aber nicht alle sind gleich schön.
"Eine gute Wahl darunter zu treffen, das müssen
"wir aus den Werken lernen, von welchen Sie
"eben nicht viel zu halten scheinen. Es sind die
"gesammelten Erfahrungen, welche ihre Ver-
"fasser und deren Vorgänger gemacht haben.
"Man mag ein noch so vortrefflicher Kopf seyn,
"so erlangt man doch nur seine Einsichten eine
"nach der andern; und ein einzelner Mensch
"schmeichelt sich vergebens, in dem kurzen Rau-
"me seines Lebens, alles selbst zu bemerken,
"was in so vielen Jahrhunderten vor ihm ent-
"deckt worden. Sonst liesse sich behaupten, daß
"eine Wissenschaft ihren Ursprung, ihren Fort-
"gang, und ihre Vollkommenheit einem einzigen

"Geiste
J i 3

„den bey ihnen? Was bekümmere ich mich um
„Regeln, wenn man mir nur Vergnügen macht?
„Es ſind wahrlich nicht die Bemerkungen des
„weiſen Almudir und des gelehrten Abdaldok,
„noch die Dichtkunſt des ſcharfſinnigen Facar-
„din, die ich alle nicht geleſen habe, welche es
„machen, daß ich die Stücke des Aboulcazem,
„des Muhardar, des Albaboukre, und ſo vieler
„andren Saracenen bewundrer! Giebt es denn
„auch eine andere Regel, als die Nachahmung
„der Natur? Und haben wir nicht eben die
„Augen, mit welchen dieſe ſie ſtudierten?„

„Die Natur, antwortete Ricaric, zeiget ſich
„uns alle Augenblicke in verſchiednen Geſtalten.
„Alle ſind wahr, aber nicht alle ſind gleich ſchön.
„Eine gute Wahl darunter zu treffen, das müſſen
„wir aus den Werken lernen, von welchen Sie
„eben nicht viel zu halten ſcheinen. Es ſind die
„geſammelten Erfahrungen, welche ihre Ver-
„faſſer und deren Vorgänger gemacht haben.
„Man mag ein noch ſo vortrefflicher Kopf ſeyn,
„ſo erlangt man doch nur ſeine Einſichten eine
„nach der andern; und ein einzelner Menſch
„ſchmeichelt ſich vergebens, in dem kurzen Rau-
„me ſeines Lebens, alles ſelbſt zu bemerken,
„was in ſo vielen Jahrhunderten vor ihm ent-
„deckt worden. Sonſt lieſſe ſich behaupten, daß
„eine Wiſſenſchaft ihren Urſprung, ihren Fort-
„gang, und ihre Vollkommenheit einem einzigen

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[253/0259] „den bey ihnen? Was bekümmere ich mich um „Regeln, wenn man mir nur Vergnügen macht? „Es ſind wahrlich nicht die Bemerkungen des „weiſen Almudir und des gelehrten Abdaldok, „noch die Dichtkunſt des ſcharfſinnigen Facar- „din, die ich alle nicht geleſen habe, welche es „machen, daß ich die Stücke des Aboulcazem, „des Muhardar, des Albaboukre, und ſo vieler „andren Saracenen bewundrer! Giebt es denn „auch eine andere Regel, als die Nachahmung „der Natur? Und haben wir nicht eben die „Augen, mit welchen dieſe ſie ſtudierten?„ „Die Natur, antwortete Ricaric, zeiget ſich „uns alle Augenblicke in verſchiednen Geſtalten. „Alle ſind wahr, aber nicht alle ſind gleich ſchön. „Eine gute Wahl darunter zu treffen, das müſſen „wir aus den Werken lernen, von welchen Sie „eben nicht viel zu halten ſcheinen. Es ſind die „geſammelten Erfahrungen, welche ihre Ver- „faſſer und deren Vorgänger gemacht haben. „Man mag ein noch ſo vortrefflicher Kopf ſeyn, „ſo erlangt man doch nur ſeine Einſichten eine „nach der andern; und ein einzelner Menſch „ſchmeichelt ſich vergebens, in dem kurzen Rau- „me ſeines Lebens, alles ſelbſt zu bemerken, „was in ſo vielen Jahrhunderten vor ihm ent- „deckt worden. Sonſt lieſſe ſich behaupten, daß „eine Wiſſenſchaft ihren Urſprung, ihren Fort- „gang, und ihre Vollkommenheit einem einzigen „Geiſte J i 3

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/259>, abgerufen am 22.11.2024.