Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

"rem Range ein unendlicher Abstand befände:
"so war dieser Zusatz überflüßig; denn er ver-
"stand sich von selbst. Wenn er aber die Mei-
"nung hatte, daß nur tugendhafte Personen,
"oder solche, die einen vergeblichen Fehler an
"sich hätten, Schrecken erregen könnten: so
"hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die
"Erfahrung ist ihm sodann entgegen. Das
"Schrecken entspringt ohnstreitig aus einem Ge-
"fühl der Menschlichkeit: denn jeder Mensch ist
"ihm unterworfen, und jeder Mensch erschüt-
"tert sich, vermöge dieses Gefühls, bey dem
"widrigen Zufalle eines andern Menschen. Es
"ist wohl möglich, daß irgend jemand einfallen
"könnte, dieses von sich zu leugnen: allein die-
"ses würde allemal eine Verleugnung seiner na-
"türlichen Empfindungen, und also eine bloße
"Prahlerey aus verderbten Grundsätzen, und
"kein Einwurf seyn. -- Wenn nun auch einer
"lasterhaften Person, auf die wir eben unsere
"Aufmerksamkeit wenden, unvermuthet ein wi-
"driger Zufall zustößt, so verlieren wir den La-
"sterhaften aus dem Gesichte, und sehen blos
"den Menschen. Der Anblick des menschlichen
"Elendes überhaupt, macht uns traurig, und
"die plötzliche traurige Empfindung, die wir so-
"dann haben, ist das Schrecken."

Ganz recht: aber nur nicht an der rechten
Stelle! Denn was sagt das wider den Aristote-

les?
Y 3

„rem Range ein unendlicher Abſtand befände:
„ſo war dieſer Zuſatz überflüßig; denn er ver-
„ſtand ſich von ſelbſt. Wenn er aber die Mei-
„nung hatte, daß nur tugendhafte Perſonen,
„oder ſolche, die einen vergeblichen Fehler an
„ſich hätten, Schrecken erregen könnten: ſo
„hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die
„Erfahrung iſt ihm ſodann entgegen. Das
„Schrecken entſpringt ohnſtreitig aus einem Ge-
„fühl der Menſchlichkeit: denn jeder Menſch iſt
„ihm unterworfen, und jeder Menſch erſchüt-
„tert ſich, vermöge dieſes Gefühls, bey dem
„widrigen Zufalle eines andern Menſchen. Es
„iſt wohl möglich, daß irgend jemand einfallen
„könnte, dieſes von ſich zu leugnen: allein die-
„ſes würde allemal eine Verleugnung ſeiner na-
„türlichen Empfindungen, und alſo eine bloße
„Prahlerey aus verderbten Grundſätzen, und
„kein Einwurf ſeyn. — Wenn nun auch einer
„laſterhaften Perſon, auf die wir eben unſere
„Aufmerkſamkeit wenden, unvermuthet ein wi-
„driger Zufall zuſtößt, ſo verlieren wir den La-
„ſterhaften aus dem Geſichte, und ſehen blos
„den Menſchen. Der Anblick des menſchlichen
„Elendes überhaupt, macht uns traurig, und
„die plötzliche traurige Empfindung, die wir ſo-
„dann haben, iſt das Schrecken.„

Ganz recht: aber nur nicht an der rechten
Stelle! Denn was ſagt das wider den Ariſtote-

les?
Y 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0179" n="173"/>
&#x201E;rem Range ein unendlicher Ab&#x017F;tand befände:<lb/>
&#x201E;&#x017F;o war die&#x017F;er Zu&#x017F;atz überflüßig; denn er ver-<lb/>
&#x201E;&#x017F;tand &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t. Wenn er aber die Mei-<lb/>
&#x201E;nung hatte, daß nur tugendhafte Per&#x017F;onen,<lb/>
&#x201E;oder &#x017F;olche, die einen vergeblichen Fehler an<lb/>
&#x201E;&#x017F;ich hätten, Schrecken erregen könnten: &#x017F;o<lb/>
&#x201E;hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die<lb/>
&#x201E;Erfahrung i&#x017F;t ihm &#x017F;odann entgegen. Das<lb/>
&#x201E;Schrecken ent&#x017F;pringt ohn&#x017F;treitig aus einem Ge-<lb/>
&#x201E;fühl der Men&#x017F;chlichkeit: denn jeder Men&#x017F;ch i&#x017F;t<lb/>
&#x201E;ihm unterworfen, und jeder Men&#x017F;ch er&#x017F;chüt-<lb/>
&#x201E;tert &#x017F;ich, vermöge die&#x017F;es Gefühls, bey dem<lb/>
&#x201E;widrigen Zufalle eines andern Men&#x017F;chen. Es<lb/>
&#x201E;i&#x017F;t wohl möglich, daß irgend jemand einfallen<lb/>
&#x201E;könnte, die&#x017F;es von &#x017F;ich zu leugnen: allein die-<lb/>
&#x201E;&#x017F;es würde allemal eine Verleugnung &#x017F;einer na-<lb/>
&#x201E;türlichen Empfindungen, und al&#x017F;o eine bloße<lb/>
&#x201E;Prahlerey aus verderbten Grund&#x017F;ätzen, und<lb/>
&#x201E;kein Einwurf &#x017F;eyn. &#x2014; Wenn nun auch einer<lb/>
&#x201E;la&#x017F;terhaften Per&#x017F;on, auf die wir eben un&#x017F;ere<lb/>
&#x201E;Aufmerk&#x017F;amkeit wenden, unvermuthet ein wi-<lb/>
&#x201E;driger Zufall zu&#x017F;tößt, &#x017F;o verlieren wir den La-<lb/>
&#x201E;&#x017F;terhaften aus dem Ge&#x017F;ichte, und &#x017F;ehen blos<lb/>
&#x201E;den Men&#x017F;chen. Der Anblick des men&#x017F;chlichen<lb/>
&#x201E;Elendes überhaupt, macht uns traurig, und<lb/>
&#x201E;die plötzliche traurige Empfindung, die wir &#x017F;o-<lb/>
&#x201E;dann haben, i&#x017F;t das Schrecken.&#x201E;</p><lb/>
        <p>Ganz recht: aber nur nicht an der rechten<lb/>
Stelle! Denn was &#x017F;agt das wider den Ari&#x017F;tote-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Y 3</fw><fw place="bottom" type="catch">les?</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0179] „rem Range ein unendlicher Abſtand befände: „ſo war dieſer Zuſatz überflüßig; denn er ver- „ſtand ſich von ſelbſt. Wenn er aber die Mei- „nung hatte, daß nur tugendhafte Perſonen, „oder ſolche, die einen vergeblichen Fehler an „ſich hätten, Schrecken erregen könnten: ſo „hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die „Erfahrung iſt ihm ſodann entgegen. Das „Schrecken entſpringt ohnſtreitig aus einem Ge- „fühl der Menſchlichkeit: denn jeder Menſch iſt „ihm unterworfen, und jeder Menſch erſchüt- „tert ſich, vermöge dieſes Gefühls, bey dem „widrigen Zufalle eines andern Menſchen. Es „iſt wohl möglich, daß irgend jemand einfallen „könnte, dieſes von ſich zu leugnen: allein die- „ſes würde allemal eine Verleugnung ſeiner na- „türlichen Empfindungen, und alſo eine bloße „Prahlerey aus verderbten Grundſätzen, und „kein Einwurf ſeyn. — Wenn nun auch einer „laſterhaften Perſon, auf die wir eben unſere „Aufmerkſamkeit wenden, unvermuthet ein wi- „driger Zufall zuſtößt, ſo verlieren wir den La- „ſterhaften aus dem Geſichte, und ſehen blos „den Menſchen. Der Anblick des menſchlichen „Elendes überhaupt, macht uns traurig, und „die plötzliche traurige Empfindung, die wir ſo- „dann haben, iſt das Schrecken.„ Ganz recht: aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was ſagt das wider den Ariſtote- les? Y 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/179
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/179>, abgerufen am 26.04.2024.