herschreibet, nicht eingesehen haben, was für eine Furcht Aristoteles meine. -- Jch möchte dieses Weges sobald nicht wieder kommen: man erlaube mir also einen kleinen Ausschweif.
"Das Mitleid, sagt Aristoteles, verlangt "einen, der unverdient leidet: und die Furcht "einen unsers gleichen. Der Bösewicht ist we- "der dieses, noch jenes: folglich kann auch sein "Unglück, weder das erste noch das andere er- "regen." (*)
Diese Furcht, sage ich, nennen die neuern Ausleger und Uebersetzer Schrecken, und es ge- lingt ihnen, mit Hülfe dieses Worttausches, dem Philosophen die seltsamsten Händel von der Welt zu machen.
"Man hat sich, sagt einer aus der Menge, (**) "über die Erklärung des Schreckens nicht verei- "nigen können; und in der That enthält sie in "jeder Betrachtung ein Glied zu viel, welches "sie an ihrer Allgemeinheit hindert, und sie allzu- "sehr einschränkt. Wenn Aristoteles durch den "Zusatz "unsers gleichen," nur blos die Aehn- "lichkeit der Menschheit verstanden hat, weil "nehmlich der Zuschauer und die handelnde Per- "son beide Menschen sind, gesetzt auch, daß sich "unter ihrem Charakter, ihrer Würde und ih-
"rem
(*) Jm 13ten Kapitel der Dichtkunst.
(**) Hr. S. in der Vorrede zu s. komischen Thea- ter, S. 35.
herſchreibet, nicht eingeſehen haben, was für eine Furcht Ariſtoteles meine. — Jch möchte dieſes Weges ſobald nicht wieder kommen: man erlaube mir alſo einen kleinen Ausſchweif.
„Das Mitleid, ſagt Ariſtoteles, verlangt „einen, der unverdient leidet: und die Furcht „einen unſers gleichen. Der Böſewicht iſt we- „der dieſes, noch jenes: folglich kann auch ſein „Unglück, weder das erſte noch das andere er- „regen.„ (*)
Dieſe Furcht, ſage ich, nennen die neuern Ausleger und Ueberſetzer Schrecken, und es ge- lingt ihnen, mit Hülfe dieſes Worttauſches, dem Philoſophen die ſeltſamſten Händel von der Welt zu machen.
„Man hat ſich, ſagt einer aus der Menge, (**) „über die Erklärung des Schreckens nicht verei- „nigen können; und in der That enthält ſie in „jeder Betrachtung ein Glied zu viel, welches „ſie an ihrer Allgemeinheit hindert, und ſie allzu- „ſehr einſchränkt. Wenn Ariſtoteles durch den „Zuſatz „unſers gleichen,„ nur blos die Aehn- „lichkeit der Menſchheit verſtanden hat, weil „nehmlich der Zuſchauer und die handelnde Per- „ſon beide Menſchen ſind, geſetzt auch, daß ſich „unter ihrem Charakter, ihrer Würde und ih-
„rem
(*) Jm 13ten Kapitel der Dichtkunſt.
(**) Hr. S. in der Vorrede zu ſ. komiſchen Thea- ter, S. 35.
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herſchreibet, nicht eingeſehen haben, was für
eine Furcht Ariſtoteles meine. — Jch möchte
dieſes Weges ſobald nicht wieder kommen: man
erlaube mir alſo einen kleinen Ausſchweif.
„Das Mitleid, ſagt Ariſtoteles, verlangt
„einen, der unverdient leidet: und die Furcht
„einen unſers gleichen. Der Böſewicht iſt we-
„der dieſes, noch jenes: folglich kann auch ſein
„Unglück, weder das erſte noch das andere er-
„regen.„ (*)
Dieſe Furcht, ſage ich, nennen die neuern
Ausleger und Ueberſetzer Schrecken, und es ge-
lingt ihnen, mit Hülfe dieſes Worttauſches, dem
Philoſophen die ſeltſamſten Händel von der Welt
zu machen.
„Man hat ſich, ſagt einer aus der Menge, (**)
„über die Erklärung des Schreckens nicht verei-
„nigen können; und in der That enthält ſie in
„jeder Betrachtung ein Glied zu viel, welches
„ſie an ihrer Allgemeinheit hindert, und ſie allzu-
„ſehr einſchränkt. Wenn Ariſtoteles durch den
„Zuſatz „unſers gleichen,„ nur blos die Aehn-
„lichkeit der Menſchheit verſtanden hat, weil
„nehmlich der Zuſchauer und die handelnde Per-
„ſon beide Menſchen ſind, geſetzt auch, daß ſich
„unter ihrem Charakter, ihrer Würde und ih-
„rem
(*) Jm 13ten Kapitel der Dichtkunſt.
(**) Hr. S. in der Vorrede zu ſ. komiſchen Thea-
ter, S. 35.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/178>, abgerufen am 24.11.2024.
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