Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Leser und Zuschauer werden ausrufen: das ist
auch sehr unerwartet! Einen Knoten, den man
in zehn Scenen so mühsam geschürzt hat, in
einer einzigen nicht zu lösen, sondern mit eins
zu zerhauen! Nun aber ist dieser Fehler in
dem Titel selbst angekündiget, und durch diese
Ankündigung gewissermaaßen gerechtfertiget.
Denn, wenn es nun wirklich einmal so einen
Fall gegeben hat: warum soll er nicht auch vor-
gestellt werden können? Er sahe ja in der Wirk-
lichkeit einer Komödie so ähnlich: und sollte er
denn eben deswegen um so unschicklicher zur Ko-
mödie seyn? -- Nach der Strenge, allerdings:
denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen
Leben wahre Komödien nennet, findet man in
der Komödie wahren Begebenheiten nicht sehr
gleich; und darauf käme es doch eigentlich an.

Aber Ausgang und Entwicklung, laufen
beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht völ-
lig. Der Ausgang ist, daß Jungfer Argante
den Erast und nicht den Dorante heyrathet, und
dieser ist hinlänglich vorbereitet. Denn ihre
Liebe gegen Doranten ist so lau, so wetterläu-
nisch; sie liebt ihn, weil sie seit vier Jahren nie-
manden gesehen hat, als ihn; manchmal liebt
sie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal
gar nicht, so wie es kömmt; hat sie ihn lange
nicht gesehen, so kömmt er ihr liebenswürdig
genug vor; sieht sie ihn alle Tage, so macht er

ihr
X 2

Leſer und Zuſchauer werden ausrufen: das iſt
auch ſehr unerwartet! Einen Knoten, den man
in zehn Scenen ſo mühſam geſchürzt hat, in
einer einzigen nicht zu löſen, ſondern mit eins
zu zerhauen! Nun aber iſt dieſer Fehler in
dem Titel ſelbſt angekündiget, und durch dieſe
Ankündigung gewiſſermaaßen gerechtfertiget.
Denn, wenn es nun wirklich einmal ſo einen
Fall gegeben hat: warum ſoll er nicht auch vor-
geſtellt werden können? Er ſahe ja in der Wirk-
lichkeit einer Komödie ſo ähnlich: und ſollte er
denn eben deswegen um ſo unſchicklicher zur Ko-
mödie ſeyn? — Nach der Strenge, allerdings:
denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen
Leben wahre Komödien nennet, findet man in
der Komödie wahren Begebenheiten nicht ſehr
gleich; und darauf käme es doch eigentlich an.

Aber Ausgang und Entwicklung, laufen
beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht völ-
lig. Der Ausgang iſt, daß Jungfer Argante
den Eraſt und nicht den Dorante heyrathet, und
dieſer iſt hinlänglich vorbereitet. Denn ihre
Liebe gegen Doranten iſt ſo lau, ſo wetterläu-
niſch; ſie liebt ihn, weil ſie ſeit vier Jahren nie-
manden geſehen hat, als ihn; manchmal liebt
ſie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal
gar nicht, ſo wie es kömmt; hat ſie ihn lange
nicht geſehen, ſo kömmt er ihr liebenswürdig
genug vor; ſieht ſie ihn alle Tage, ſo macht er

ihr
X 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0169" n="163"/>
Le&#x017F;er und Zu&#x017F;chauer werden ausrufen: das i&#x017F;t<lb/>
auch &#x017F;ehr unerwartet! Einen Knoten, den man<lb/>
in zehn Scenen &#x017F;o müh&#x017F;am ge&#x017F;chürzt hat, in<lb/>
einer einzigen nicht zu lö&#x017F;en, &#x017F;ondern mit eins<lb/>
zu zerhauen! Nun aber i&#x017F;t die&#x017F;er Fehler in<lb/>
dem Titel &#x017F;elb&#x017F;t angekündiget, und durch die&#x017F;e<lb/>
Ankündigung gewi&#x017F;&#x017F;ermaaßen gerechtfertiget.<lb/>
Denn, wenn es nun wirklich einmal &#x017F;o einen<lb/>
Fall gegeben hat: warum &#x017F;oll er nicht auch vor-<lb/>
ge&#x017F;tellt werden können? Er &#x017F;ahe ja in der Wirk-<lb/>
lichkeit einer Komödie &#x017F;o ähnlich: und &#x017F;ollte er<lb/>
denn eben deswegen um &#x017F;o un&#x017F;chicklicher zur Ko-<lb/>
mödie &#x017F;eyn? &#x2014; Nach der Strenge, allerdings:<lb/>
denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen<lb/>
Leben wahre Komödien nennet, findet man in<lb/>
der Komödie wahren Begebenheiten nicht &#x017F;ehr<lb/>
gleich; und darauf käme es doch eigentlich an.</p><lb/>
        <p>Aber Ausgang und Entwicklung, laufen<lb/>
beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht völ-<lb/>
lig. Der Ausgang i&#x017F;t, daß Jungfer Argante<lb/>
den Era&#x017F;t und nicht den Dorante heyrathet, und<lb/>
die&#x017F;er i&#x017F;t hinlänglich vorbereitet. Denn ihre<lb/>
Liebe gegen Doranten i&#x017F;t &#x017F;o lau, &#x017F;o wetterläu-<lb/>
ni&#x017F;ch; &#x017F;ie liebt ihn, weil &#x017F;ie &#x017F;eit vier Jahren nie-<lb/>
manden ge&#x017F;ehen hat, als ihn; manchmal liebt<lb/>
&#x017F;ie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal<lb/>
gar nicht, &#x017F;o wie es kömmt; hat &#x017F;ie ihn lange<lb/>
nicht ge&#x017F;ehen, &#x017F;o kömmt er ihr liebenswürdig<lb/>
genug vor; &#x017F;ieht &#x017F;ie ihn alle Tage, &#x017F;o macht er<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">X 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ihr</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[163/0169] Leſer und Zuſchauer werden ausrufen: das iſt auch ſehr unerwartet! Einen Knoten, den man in zehn Scenen ſo mühſam geſchürzt hat, in einer einzigen nicht zu löſen, ſondern mit eins zu zerhauen! Nun aber iſt dieſer Fehler in dem Titel ſelbſt angekündiget, und durch dieſe Ankündigung gewiſſermaaßen gerechtfertiget. Denn, wenn es nun wirklich einmal ſo einen Fall gegeben hat: warum ſoll er nicht auch vor- geſtellt werden können? Er ſahe ja in der Wirk- lichkeit einer Komödie ſo ähnlich: und ſollte er denn eben deswegen um ſo unſchicklicher zur Ko- mödie ſeyn? — Nach der Strenge, allerdings: denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen Leben wahre Komödien nennet, findet man in der Komödie wahren Begebenheiten nicht ſehr gleich; und darauf käme es doch eigentlich an. Aber Ausgang und Entwicklung, laufen beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht völ- lig. Der Ausgang iſt, daß Jungfer Argante den Eraſt und nicht den Dorante heyrathet, und dieſer iſt hinlänglich vorbereitet. Denn ihre Liebe gegen Doranten iſt ſo lau, ſo wetterläu- niſch; ſie liebt ihn, weil ſie ſeit vier Jahren nie- manden geſehen hat, als ihn; manchmal liebt ſie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht, ſo wie es kömmt; hat ſie ihn lange nicht geſehen, ſo kömmt er ihr liebenswürdig genug vor; ſieht ſie ihn alle Tage, ſo macht er ihr X 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/169
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/169>, abgerufen am 24.11.2024.