Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Wenn das Neue hierinn bestand, so ist es
sehr gut, daß man die neue Gattung eingehen
lassen. Mehr oder weniger künstlich, Erzeh-
lung bleibt immer Erzehlung, und wir wollen
auf dem Theater wirkliche Handlungen sehen. --
Aber ist es denn auch wahr, daß alles darinn
erzehlt wird? daß alles nur Handlung zu seyn
scheint? Voltaire hätte diesen alten Einwurf
nicht wieder aufwärmen sollen; oder, anstatt
ihn in ein anscheinendes Lob zu verkehren, hätte
er wenigstens die Antwort beyfügen sollen, die
Moliere selbst darauf ertheilte, und die sehr pas-
send ist. Die Erzehlungen nehmlich sind in die-
sem Stücke, vermöge der innern Verfassung
desselben, wirkliche Handlung; sie haben alles,
was zu einer komischen Handlung erforderlich
ist; und es ist bloße Wortklauberey, ihnen die-
sen Namen hier streitig zu machen. (*) Denn
es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an,
welche erzehlt werden, als auf den Eindruck,
welchen diese Vorfälle auf den betrognen Alten
machen, wenn er sie erfährt. Das Lächerliche
dieses Alten wollte Moliere vornehmlich schil-
dern; ihn müssen wir also vornehmlich sehen,
wie er sich bey dem Unfalle, der ihm drohet, ge-

behr-
(*) In der Kritik der Frauenschule, in der Per-
son des Dorante: Les recits euxmemes y
sont des actions suivant la constitution
du sujet.

Wenn das Neue hierinn beſtand, ſo iſt es
ſehr gut, daß man die neue Gattung eingehen
laſſen. Mehr oder weniger künſtlich, Erzeh-
lung bleibt immer Erzehlung, und wir wollen
auf dem Theater wirkliche Handlungen ſehen. —
Aber iſt es denn auch wahr, daß alles darinn
erzehlt wird? daß alles nur Handlung zu ſeyn
ſcheint? Voltaire hätte dieſen alten Einwurf
nicht wieder aufwärmen ſollen; oder, anſtatt
ihn in ein anſcheinendes Lob zu verkehren, hätte
er wenigſtens die Antwort beyfügen ſollen, die
Moliere ſelbſt darauf ertheilte, und die ſehr paſ-
ſend iſt. Die Erzehlungen nehmlich ſind in die-
ſem Stücke, vermöge der innern Verfaſſung
deſſelben, wirkliche Handlung; ſie haben alles,
was zu einer komiſchen Handlung erforderlich
iſt; und es iſt bloße Wortklauberey, ihnen die-
ſen Namen hier ſtreitig zu machen. (*) Denn
es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an,
welche erzehlt werden, als auf den Eindruck,
welchen dieſe Vorfälle auf den betrognen Alten
machen, wenn er ſie erfährt. Das Lächerliche
dieſes Alten wollte Moliere vornehmlich ſchil-
dern; ihn müſſen wir alſo vornehmlich ſehen,
wie er ſich bey dem Unfalle, der ihm drohet, ge-

behr-
(*) In der Kritik der Frauenſchule, in der Per-
ſon des Dorante: Les recits euxmêmes y
ſont des actions ſuivant la conſtitution
du ſujet.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0013" n="7"/>
        <p>Wenn das Neue hierinn be&#x017F;tand, &#x017F;o i&#x017F;t es<lb/>
&#x017F;ehr gut, daß man die neue Gattung eingehen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Mehr oder weniger kün&#x017F;tlich, Erzeh-<lb/>
lung bleibt immer Erzehlung, und wir wollen<lb/>
auf dem Theater wirkliche Handlungen &#x017F;ehen. &#x2014;<lb/>
Aber i&#x017F;t es denn auch wahr, daß alles darinn<lb/>
erzehlt wird? daß alles nur Handlung zu &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;cheint? Voltaire hätte die&#x017F;en alten Einwurf<lb/>
nicht wieder aufwärmen &#x017F;ollen; oder, an&#x017F;tatt<lb/>
ihn in ein an&#x017F;cheinendes Lob zu verkehren, hätte<lb/>
er wenig&#x017F;tens die Antwort beyfügen &#x017F;ollen, die<lb/>
Moliere &#x017F;elb&#x017F;t darauf ertheilte, und die &#x017F;ehr pa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;end i&#x017F;t. Die Erzehlungen nehmlich &#x017F;ind in die-<lb/>
&#x017F;em Stücke, vermöge der innern Verfa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben, wirkliche Handlung; &#x017F;ie haben alles,<lb/>
was zu einer komi&#x017F;chen Handlung erforderlich<lb/>
i&#x017F;t; und es i&#x017F;t bloße Wortklauberey, ihnen die-<lb/>
&#x017F;en Namen hier &#x017F;treitig zu machen. <note place="foot" n="(*)">In der Kritik der Frauen&#x017F;chule, in der Per-<lb/>
&#x017F;on des Dorante: <hi rendition="#aq">Les recits euxmêmes y<lb/>
&#x017F;ont des actions &#x017F;uivant la con&#x017F;titution<lb/>
du &#x017F;ujet.</hi></note> Denn<lb/>
es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an,<lb/>
welche erzehlt werden, als auf den Eindruck,<lb/>
welchen die&#x017F;e Vorfälle auf den betrognen Alten<lb/>
machen, wenn er &#x017F;ie erfährt. Das Lächerliche<lb/>
die&#x017F;es Alten wollte Moliere vornehmlich &#x017F;chil-<lb/>
dern; ihn mü&#x017F;&#x017F;en wir al&#x017F;o vornehmlich &#x017F;ehen,<lb/>
wie er &#x017F;ich bey dem Unfalle, der ihm drohet, ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">behr-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0013] Wenn das Neue hierinn beſtand, ſo iſt es ſehr gut, daß man die neue Gattung eingehen laſſen. Mehr oder weniger künſtlich, Erzeh- lung bleibt immer Erzehlung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen ſehen. — Aber iſt es denn auch wahr, daß alles darinn erzehlt wird? daß alles nur Handlung zu ſeyn ſcheint? Voltaire hätte dieſen alten Einwurf nicht wieder aufwärmen ſollen; oder, anſtatt ihn in ein anſcheinendes Lob zu verkehren, hätte er wenigſtens die Antwort beyfügen ſollen, die Moliere ſelbſt darauf ertheilte, und die ſehr paſ- ſend iſt. Die Erzehlungen nehmlich ſind in die- ſem Stücke, vermöge der innern Verfaſſung deſſelben, wirkliche Handlung; ſie haben alles, was zu einer komiſchen Handlung erforderlich iſt; und es iſt bloße Wortklauberey, ihnen die- ſen Namen hier ſtreitig zu machen. (*) Denn es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an, welche erzehlt werden, als auf den Eindruck, welchen dieſe Vorfälle auf den betrognen Alten machen, wenn er ſie erfährt. Das Lächerliche dieſes Alten wollte Moliere vornehmlich ſchil- dern; ihn müſſen wir alſo vornehmlich ſehen, wie er ſich bey dem Unfalle, der ihm drohet, ge- behr- (*) In der Kritik der Frauenſchule, in der Per- ſon des Dorante: Les recits euxmêmes y ſont des actions ſuivant la conſtitution du ſujet.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/13
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/13>, abgerufen am 21.11.2024.