Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie so eine blutdürstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache in der ersten Hitze mit dem Mörder was sie will, ich ver- zeihe ihr, sie ist Mensch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze zu verwünschen habe. Aber, Madame, einen jungen Menschen, der Sie kurz zuvor so sehr in- teressirte, an dem Sie so viele Merkmahle der Auf- richtigkeit und Unschuld erkannten, weil man eine alte Rüstung bey ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Mörder Ihres Sohnes, an dem Grabmahle seines Vaters, mit eigner Hand abschlachten zu wollen, Leibwache und Priester dazu zu Hülfe zu nehmen -- O pfuy, Madame! Ich müßte mich sehr irren, oder Sie wären in Athen ausgepfiffen worden.
Daß die Unschicklichkeit, mit welcher Poly- phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me- rope zur Gemahlinn verlangt, eben so wenig ein Fehler des Stoffes ist, habe ich schon berührt. (*) Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly- phont Meropen gleich nach der Ermordung des Kresphonts geheyrathet; und es ist sehr glaub- lich, daß selbst Euripides diesen Umstand so an- genommen hatte. Warum sollte er auch nicht? Eben die Gründe, mit welchen Eurikles, beym
Vol-
(*) Oben S. 347.
Zeit zur Unterſuchung nehmen ſollen. Warum iſt ſie ſo eine blutduͤrſtige Beſtie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; ſie mache in der erſten Hitze mit dem Moͤrder was ſie will, ich ver- zeihe ihr, ſie iſt Menſch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn ſie finden ſollte, wie ſehr ſie ihre erſte raſche Hitze zu verwuͤnſchen habe. Aber, Madame, einen jungen Menſchen, der Sie kurz zuvor ſo ſehr in- tereſſirte, an dem Sie ſo viele Merkmahle der Auf- richtigkeit und Unſchuld erkannten, weil man eine alte Ruͤſtung bey ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen ſollte, als den Moͤrder Ihres Sohnes, an dem Grabmahle ſeines Vaters, mit eigner Hand abſchlachten zu wollen, Leibwache und Prieſter dazu zu Huͤlfe zu nehmen — O pfuy, Madame! Ich muͤßte mich ſehr irren, oder Sie waͤren in Athen ausgepfiffen worden.
Daß die Unſchicklichkeit, mit welcher Poly- phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me- rope zur Gemahlinn verlangt, eben ſo wenig ein Fehler des Stoffes iſt, habe ich ſchon beruͤhrt. (*) Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly- phont Meropen gleich nach der Ermordung des Kreſphonts geheyrathet; und es iſt ſehr glaub- lich, daß ſelbſt Euripides dieſen Umſtand ſo an- genommen hatte. Warum ſollte er auch nicht? Eben die Gruͤnde, mit welchen Eurikles, beym
Vol-
(*) Oben S. 347.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0386"n="372"/>
Zeit zur Unterſuchung nehmen ſollen. Warum<lb/>
iſt ſie ſo eine blutduͤrſtige Beſtie? Er hat ihren<lb/>
Sohn umgebracht: gut; ſie mache in der erſten<lb/>
Hitze mit dem Moͤrder was ſie will, ich ver-<lb/>
zeihe ihr, ſie iſt Menſch und Mutter; auch will<lb/>
ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn<lb/>ſie finden ſollte, wie ſehr ſie ihre erſte raſche Hitze<lb/>
zu verwuͤnſchen habe. Aber, Madame, einen<lb/>
jungen Menſchen, der Sie kurz zuvor ſo ſehr in-<lb/>
tereſſirte, an dem Sie ſo viele Merkmahle der Auf-<lb/>
richtigkeit und Unſchuld erkannten, weil man<lb/>
eine alte Ruͤſtung bey ihm findet, die nur Ihr<lb/>
Sohn tragen ſollte, als den Moͤrder Ihres<lb/>
Sohnes, an dem Grabmahle ſeines Vaters, mit<lb/>
eigner Hand abſchlachten zu wollen, Leibwache<lb/>
und Prieſter dazu zu Huͤlfe zu nehmen — O<lb/>
pfuy, Madame! Ich muͤßte mich ſehr irren,<lb/>
oder Sie waͤren in Athen ausgepfiffen worden.</p><lb/><p>Daß die Unſchicklichkeit, mit welcher Poly-<lb/>
phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me-<lb/>
rope zur Gemahlinn verlangt, eben ſo wenig ein<lb/>
Fehler des Stoffes iſt, habe ich ſchon beruͤhrt. <noteplace="foot"n="(*)">Oben S. 347.</note><lb/>
Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly-<lb/>
phont Meropen gleich nach der Ermordung des<lb/>
Kreſphonts geheyrathet; und es iſt ſehr glaub-<lb/>
lich, daß ſelbſt Euripides dieſen Umſtand ſo an-<lb/>
genommen hatte. Warum ſollte er auch nicht?<lb/>
Eben die Gruͤnde, mit welchen Eurikles, beym<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Vol-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[372/0386]
Zeit zur Unterſuchung nehmen ſollen. Warum
iſt ſie ſo eine blutduͤrſtige Beſtie? Er hat ihren
Sohn umgebracht: gut; ſie mache in der erſten
Hitze mit dem Moͤrder was ſie will, ich ver-
zeihe ihr, ſie iſt Menſch und Mutter; auch will
ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn
ſie finden ſollte, wie ſehr ſie ihre erſte raſche Hitze
zu verwuͤnſchen habe. Aber, Madame, einen
jungen Menſchen, der Sie kurz zuvor ſo ſehr in-
tereſſirte, an dem Sie ſo viele Merkmahle der Auf-
richtigkeit und Unſchuld erkannten, weil man
eine alte Ruͤſtung bey ihm findet, die nur Ihr
Sohn tragen ſollte, als den Moͤrder Ihres
Sohnes, an dem Grabmahle ſeines Vaters, mit
eigner Hand abſchlachten zu wollen, Leibwache
und Prieſter dazu zu Huͤlfe zu nehmen — O
pfuy, Madame! Ich muͤßte mich ſehr irren,
oder Sie waͤren in Athen ausgepfiffen worden.
Daß die Unſchicklichkeit, mit welcher Poly-
phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me-
rope zur Gemahlinn verlangt, eben ſo wenig ein
Fehler des Stoffes iſt, habe ich ſchon beruͤhrt. (*)
Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly-
phont Meropen gleich nach der Ermordung des
Kreſphonts geheyrathet; und es iſt ſehr glaub-
lich, daß ſelbſt Euripides dieſen Umſtand ſo an-
genommen hatte. Warum ſollte er auch nicht?
Eben die Gruͤnde, mit welchen Eurikles, beym
Vol-
(*) Oben S. 347.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/386>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.