Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum
ist sie so eine blutdürstige Bestie? Er hat ihren
Sohn umgebracht: gut; sie mache in der ersten
Hitze mit dem Mörder was sie will, ich ver-
zeihe ihr, sie ist Mensch und Mutter; auch will
ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn
sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze
zu verwünschen habe. Aber, Madame, einen
jungen Menschen, der Sie kurz zuvor so sehr in-
teressirte, an dem Sie so viele Merkmahle der Auf-
richtigkeit und Unschuld erkannten, weil man
eine alte Rüstung bey ihm findet, die nur Ihr
Sohn tragen sollte, als den Mörder Ihres
Sohnes, an dem Grabmahle seines Vaters, mit
eigner Hand abschlachten zu wollen, Leibwache
und Priester dazu zu Hülfe zu nehmen -- O
pfuy, Madame! Ich müßte mich sehr irren,
oder Sie wären in Athen ausgepfiffen worden.

Daß die Unschicklichkeit, mit welcher Poly-
phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me-
rope zur Gemahlinn verlangt, eben so wenig ein
Fehler des Stoffes ist, habe ich schon berührt. (*)
Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly-
phont Meropen gleich nach der Ermordung des
Kresphonts geheyrathet; und es ist sehr glaub-
lich, daß selbst Euripides diesen Umstand so an-
genommen hatte. Warum sollte er auch nicht?
Eben die Gründe, mit welchen Eurikles, beym

Vol-
(*) Oben S. 347.

Zeit zur Unterſuchung nehmen ſollen. Warum
iſt ſie ſo eine blutduͤrſtige Beſtie? Er hat ihren
Sohn umgebracht: gut; ſie mache in der erſten
Hitze mit dem Moͤrder was ſie will, ich ver-
zeihe ihr, ſie iſt Menſch und Mutter; auch will
ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn
ſie finden ſollte, wie ſehr ſie ihre erſte raſche Hitze
zu verwuͤnſchen habe. Aber, Madame, einen
jungen Menſchen, der Sie kurz zuvor ſo ſehr in-
tereſſirte, an dem Sie ſo viele Merkmahle der Auf-
richtigkeit und Unſchuld erkannten, weil man
eine alte Ruͤſtung bey ihm findet, die nur Ihr
Sohn tragen ſollte, als den Moͤrder Ihres
Sohnes, an dem Grabmahle ſeines Vaters, mit
eigner Hand abſchlachten zu wollen, Leibwache
und Prieſter dazu zu Huͤlfe zu nehmen — O
pfuy, Madame! Ich muͤßte mich ſehr irren,
oder Sie waͤren in Athen ausgepfiffen worden.

Daß die Unſchicklichkeit, mit welcher Poly-
phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me-
rope zur Gemahlinn verlangt, eben ſo wenig ein
Fehler des Stoffes iſt, habe ich ſchon beruͤhrt. (*)
Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly-
phont Meropen gleich nach der Ermordung des
Kreſphonts geheyrathet; und es iſt ſehr glaub-
lich, daß ſelbſt Euripides dieſen Umſtand ſo an-
genommen hatte. Warum ſollte er auch nicht?
Eben die Gruͤnde, mit welchen Eurikles, beym

Vol-
(*) Oben S. 347.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0386" n="372"/>
Zeit zur Unter&#x017F;uchung nehmen &#x017F;ollen. Warum<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;ie &#x017F;o eine blutdu&#x0364;r&#x017F;tige Be&#x017F;tie? Er hat ihren<lb/>
Sohn umgebracht: gut; &#x017F;ie mache in der er&#x017F;ten<lb/>
Hitze mit dem Mo&#x0364;rder was &#x017F;ie will, ich ver-<lb/>
zeihe ihr, &#x017F;ie i&#x017F;t Men&#x017F;ch und Mutter; auch will<lb/>
ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn<lb/>
&#x017F;ie finden &#x017F;ollte, wie &#x017F;ehr &#x017F;ie ihre er&#x017F;te ra&#x017F;che Hitze<lb/>
zu verwu&#x0364;n&#x017F;chen habe. Aber, Madame, einen<lb/>
jungen Men&#x017F;chen, der Sie kurz zuvor &#x017F;o &#x017F;ehr in-<lb/>
tere&#x017F;&#x017F;irte, an dem Sie &#x017F;o viele Merkmahle der Auf-<lb/>
richtigkeit und Un&#x017F;chuld erkannten, weil man<lb/>
eine alte Ru&#x0364;&#x017F;tung bey ihm findet, die nur Ihr<lb/>
Sohn tragen &#x017F;ollte, als den Mo&#x0364;rder Ihres<lb/>
Sohnes, an dem Grabmahle &#x017F;eines Vaters, mit<lb/>
eigner Hand ab&#x017F;chlachten zu wollen, Leibwache<lb/>
und Prie&#x017F;ter dazu zu Hu&#x0364;lfe zu nehmen &#x2014; O<lb/>
pfuy, Madame! Ich mu&#x0364;ßte mich &#x017F;ehr irren,<lb/>
oder Sie wa&#x0364;ren in Athen ausgepfiffen worden.</p><lb/>
        <p>Daß die Un&#x017F;chicklichkeit, mit welcher Poly-<lb/>
phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me-<lb/>
rope zur Gemahlinn verlangt, eben &#x017F;o wenig ein<lb/>
Fehler des Stoffes i&#x017F;t, habe ich &#x017F;chon beru&#x0364;hrt. <note place="foot" n="(*)">Oben S. 347.</note><lb/>
Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly-<lb/>
phont Meropen gleich nach der Ermordung des<lb/>
Kre&#x017F;phonts geheyrathet; und es i&#x017F;t &#x017F;ehr glaub-<lb/>
lich, daß &#x017F;elb&#x017F;t Euripides die&#x017F;en Um&#x017F;tand &#x017F;o an-<lb/>
genommen hatte. Warum &#x017F;ollte er auch nicht?<lb/>
Eben die Gru&#x0364;nde, mit welchen Eurikles, beym<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Vol-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[372/0386] Zeit zur Unterſuchung nehmen ſollen. Warum iſt ſie ſo eine blutduͤrſtige Beſtie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; ſie mache in der erſten Hitze mit dem Moͤrder was ſie will, ich ver- zeihe ihr, ſie iſt Menſch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn ſie finden ſollte, wie ſehr ſie ihre erſte raſche Hitze zu verwuͤnſchen habe. Aber, Madame, einen jungen Menſchen, der Sie kurz zuvor ſo ſehr in- tereſſirte, an dem Sie ſo viele Merkmahle der Auf- richtigkeit und Unſchuld erkannten, weil man eine alte Ruͤſtung bey ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen ſollte, als den Moͤrder Ihres Sohnes, an dem Grabmahle ſeines Vaters, mit eigner Hand abſchlachten zu wollen, Leibwache und Prieſter dazu zu Huͤlfe zu nehmen — O pfuy, Madame! Ich muͤßte mich ſehr irren, oder Sie waͤren in Athen ausgepfiffen worden. Daß die Unſchicklichkeit, mit welcher Poly- phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me- rope zur Gemahlinn verlangt, eben ſo wenig ein Fehler des Stoffes iſt, habe ich ſchon beruͤhrt. (*) Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly- phont Meropen gleich nach der Ermordung des Kreſphonts geheyrathet; und es iſt ſehr glaub- lich, daß ſelbſt Euripides dieſen Umſtand ſo an- genommen hatte. Warum ſollte er auch nicht? Eben die Gruͤnde, mit welchen Eurikles, beym Vol- (*) Oben S. 347.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/386
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/386>, abgerufen am 25.11.2024.