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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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des Maffei abermals für den Stoff selbst neh-
men. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope
den Aegisth mit eigner Hand ermorden will,
allein er erfordert nicht, daß sie es mit aller
Ueberlegung thun muß. Und so scheinet sie es
auch bey dem Euripides nicht gethan zu haben,
wenn wir anders die Fabel des Hyginus für den
Auszug seines Stücks annehmen dürfen. Der
Alte kömmt und sagt der Königinn weinend, daß
ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte sie ge-
hört, daß ein Fremder angelangt sey, der sich
rühme, ihn umgebracht zu haben, und daß die-
ser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe; sie
ergreift das erste das beste, was ihr in die Hände
fällt, eilet voller Wuth nach dem Zimmer des
Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Er-
kennung geschieht in dem Augenblicke, da das
Verbrechen geschehen sollte. Das war sehr
simpel und natürlich, sehr rührend und mensch-
lich! Die Athenienser zitterten für den Aegisth,
ohne Meropen verabscheuen zu dürfen. Sie
zitterten für Meropen selbst, die durch die gut-
artigste Uebereilung Gefahr lief, die Mörderinn
ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire
aber machen mich blos für den Aegisth zittern;
denn auf ihre Merope bin ich so ungehalten, daß
ich es ihr fast gönnen möchte, sie vollführte den
Streich. Möchte sie es doch haben! Kann sie
sich Zeit zur Rache nehmen, so hätte sie sich auch

Zeit
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des Maffei abermals fuͤr den Stoff ſelbſt neh-
men. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope
den Aegisth mit eigner Hand ermorden will,
allein er erfordert nicht, daß ſie es mit aller
Ueberlegung thun muß. Und ſo ſcheinet ſie es
auch bey dem Euripides nicht gethan zu haben,
wenn wir anders die Fabel des Hyginus fuͤr den
Auszug ſeines Stuͤcks annehmen duͤrfen. Der
Alte koͤmmt und ſagt der Koͤniginn weinend, daß
ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte ſie ge-
hoͤrt, daß ein Fremder angelangt ſey, der ſich
ruͤhme, ihn umgebracht zu haben, und daß die-
ſer Fremde ruhig unter ihrem Dache ſchlafe; ſie
ergreift das erſte das beſte, was ihr in die Haͤnde
faͤllt, eilet voller Wuth nach dem Zimmer des
Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Er-
kennung geſchieht in dem Augenblicke, da das
Verbrechen geſchehen ſollte. Das war ſehr
ſimpel und natuͤrlich, ſehr ruͤhrend und menſch-
lich! Die Athenienſer zitterten fuͤr den Aegisth,
ohne Meropen verabſcheuen zu duͤrfen. Sie
zitterten fuͤr Meropen ſelbſt, die durch die gut-
artigſte Uebereilung Gefahr lief, die Moͤrderinn
ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire
aber machen mich blos fuͤr den Aegisth zittern;
denn auf ihre Merope bin ich ſo ungehalten, daß
ich es ihr faſt goͤnnen moͤchte, ſie vollfuͤhrte den
Streich. Moͤchte ſie es doch haben! Kann ſie
ſich Zeit zur Rache nehmen, ſo haͤtte ſie ſich auch

Zeit
A a a 2
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[371/0385] des Maffei abermals fuͤr den Stoff ſelbſt neh- men. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert nicht, daß ſie es mit aller Ueberlegung thun muß. Und ſo ſcheinet ſie es auch bey dem Euripides nicht gethan zu haben, wenn wir anders die Fabel des Hyginus fuͤr den Auszug ſeines Stuͤcks annehmen duͤrfen. Der Alte koͤmmt und ſagt der Koͤniginn weinend, daß ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte ſie ge- hoͤrt, daß ein Fremder angelangt ſey, der ſich ruͤhme, ihn umgebracht zu haben, und daß die- ſer Fremde ruhig unter ihrem Dache ſchlafe; ſie ergreift das erſte das beſte, was ihr in die Haͤnde faͤllt, eilet voller Wuth nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Er- kennung geſchieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geſchehen ſollte. Das war ſehr ſimpel und natuͤrlich, ſehr ruͤhrend und menſch- lich! Die Athenienſer zitterten fuͤr den Aegisth, ohne Meropen verabſcheuen zu duͤrfen. Sie zitterten fuͤr Meropen ſelbſt, die durch die gut- artigſte Uebereilung Gefahr lief, die Moͤrderinn ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber machen mich blos fuͤr den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich ſo ungehalten, daß ich es ihr faſt goͤnnen moͤchte, ſie vollfuͤhrte den Streich. Moͤchte ſie es doch haben! Kann ſie ſich Zeit zur Rache nehmen, ſo haͤtte ſie ſich auch Zeit A a a 2

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/385>, abgerufen am 19.05.2024.