Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Voltaire rechne es dem Marquis immer so
hoch an, als er will, daß er einer der erstern un-
ter den Italienern sey, welcher Muth und Kraft
genug gehabt, eine Tragödie ohne Galanterie
zu schreiben, in welcher die ganze Intrigue auf
der Liebe einer Mutter beruhe, und das zärt-
lichste Interesse aus der reinsten Tugend ent-
springe. Er beklage es, so sehr als ihm beliebt,
daß die falsche Delicatesse seiner Nation ihm
nicht erlauben wollen, von den leichtesten natür-
lichsten Mitteln, welche die Umstände zur Ver-
wicklung darbieten, von den unstudierten wah-
ren Reden, welche die Sache selbst in den Mund
legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Par-
terr hat unstreitig sehr Unrecht, wenn es seit
dem königlichen Ringe, über den Boileau in
seinen Satiren spottet, durchaus von keinem
Ringe auf dem Theater mehr hören will; (*)
wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu
jedem andern, auch dem aller unschicklichsten
Mittel der Erkennung seine Zuflucht zu nehmen,
als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze
Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung,
eine Art von Versicherung der Person, verbun-
den hat. Es hat sehr Unrecht, wenn es nicht
will, daß ein junger Mensch, der sich für den

Sohn
(*) Je n'ai pu me servir come Mr. Maffei d'un
anneau, parce que depuis l'anneau royal
dont Boileau se moque dans ses satyres,
cela semblerait trop petit sur notre theatre.

Voltaire rechne es dem Marquis immer ſo
hoch an, als er will, daß er einer der erſtern un-
ter den Italienern ſey, welcher Muth und Kraft
genug gehabt, eine Tragoͤdie ohne Galanterie
zu ſchreiben, in welcher die ganze Intrigue auf
der Liebe einer Mutter beruhe, und das zaͤrt-
lichſte Intereſſe aus der reinſten Tugend ent-
ſpringe. Er beklage es, ſo ſehr als ihm beliebt,
daß die falſche Delicateſſe ſeiner Nation ihm
nicht erlauben wollen, von den leichteſten natuͤr-
lichſten Mitteln, welche die Umſtaͤnde zur Ver-
wicklung darbieten, von den unſtudierten wah-
ren Reden, welche die Sache ſelbſt in den Mund
legt, Gebrauch zu machen. Das Pariſer Par-
terr hat unſtreitig ſehr Unrecht, wenn es ſeit
dem koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in
ſeinen Satiren ſpottet, durchaus von keinem
Ringe auf dem Theater mehr hoͤren will; (*)
wenn es ſeine Dichter daher zwingt, lieber zu
jedem andern, auch dem aller unſchicklichſten
Mittel der Erkennung ſeine Zuflucht zu nehmen,
als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze
Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung,
eine Art von Verſicherung der Perſon, verbun-
den hat. Es hat ſehr Unrecht, wenn es nicht
will, daß ein junger Menſch, der ſich fuͤr den

Sohn
(*) Je n’ai pu me ſervir come Mr. Maffei d’un
anneau, parce que depuis l’anneau royal
dont Boileau ſe moque dans ſes ſatyres,
cela ſemblerait trop petit ſur notre theatre.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0338" n="324"/>
        <p>Voltaire rechne es dem Marquis immer &#x017F;o<lb/>
hoch an, als er will, daß er einer der er&#x017F;tern un-<lb/>
ter den Italienern &#x017F;ey, welcher Muth und Kraft<lb/>
genug gehabt, eine Trago&#x0364;die ohne Galanterie<lb/>
zu &#x017F;chreiben, in welcher die ganze Intrigue auf<lb/>
der Liebe einer Mutter beruhe, und das za&#x0364;rt-<lb/>
lich&#x017F;te Intere&#x017F;&#x017F;e aus der rein&#x017F;ten Tugend ent-<lb/>
&#x017F;pringe. Er beklage es, &#x017F;o &#x017F;ehr als ihm beliebt,<lb/>
daß die fal&#x017F;che Delicate&#x017F;&#x017F;e &#x017F;einer Nation ihm<lb/>
nicht erlauben wollen, von den leichte&#x017F;ten natu&#x0364;r-<lb/>
lich&#x017F;ten Mitteln, welche die Um&#x017F;ta&#x0364;nde zur Ver-<lb/>
wicklung darbieten, von den un&#x017F;tudierten wah-<lb/>
ren Reden, welche die Sache &#x017F;elb&#x017F;t in den Mund<lb/>
legt, Gebrauch zu machen. Das Pari&#x017F;er Par-<lb/>
terr hat un&#x017F;treitig &#x017F;ehr Unrecht, wenn es &#x017F;eit<lb/>
dem ko&#x0364;niglichen Ringe, u&#x0364;ber den Boileau in<lb/>
&#x017F;einen Satiren &#x017F;pottet, durchaus von keinem<lb/>
Ringe auf dem Theater mehr ho&#x0364;ren will; <note place="foot" n="(*)"><cit><quote><hi rendition="#aq">Je n&#x2019;ai pu me &#x017F;ervir come Mr. Maffei d&#x2019;un<lb/>
anneau, parce que depuis l&#x2019;anneau royal<lb/>
dont Boileau &#x017F;e moque dans &#x017F;es &#x017F;atyres,<lb/>
cela &#x017F;emblerait trop petit &#x017F;ur notre theatre.</hi></quote></cit></note><lb/>
wenn es &#x017F;eine Dichter daher zwingt, lieber zu<lb/>
jedem andern, auch dem aller un&#x017F;chicklich&#x017F;ten<lb/>
Mittel der Erkennung &#x017F;eine Zuflucht zu nehmen,<lb/>
als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze<lb/>
Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung,<lb/>
eine Art von Ver&#x017F;icherung der Per&#x017F;on, verbun-<lb/>
den hat. Es hat &#x017F;ehr Unrecht, wenn es nicht<lb/>
will, daß ein junger Men&#x017F;ch, der &#x017F;ich fu&#x0364;r den<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Sohn</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[324/0338] Voltaire rechne es dem Marquis immer ſo hoch an, als er will, daß er einer der erſtern un- ter den Italienern ſey, welcher Muth und Kraft genug gehabt, eine Tragoͤdie ohne Galanterie zu ſchreiben, in welcher die ganze Intrigue auf der Liebe einer Mutter beruhe, und das zaͤrt- lichſte Intereſſe aus der reinſten Tugend ent- ſpringe. Er beklage es, ſo ſehr als ihm beliebt, daß die falſche Delicateſſe ſeiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichteſten natuͤr- lichſten Mitteln, welche die Umſtaͤnde zur Ver- wicklung darbieten, von den unſtudierten wah- ren Reden, welche die Sache ſelbſt in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariſer Par- terr hat unſtreitig ſehr Unrecht, wenn es ſeit dem koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in ſeinen Satiren ſpottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hoͤren will; (*) wenn es ſeine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem aller unſchicklichſten Mittel der Erkennung ſeine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Verſicherung der Perſon, verbun- den hat. Es hat ſehr Unrecht, wenn es nicht will, daß ein junger Menſch, der ſich fuͤr den Sohn (*) Je n’ai pu me ſervir come Mr. Maffei d’un anneau, parce que depuis l’anneau royal dont Boileau ſe moque dans ſes ſatyres, cela ſemblerait trop petit ſur notre theatre.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/338
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/338>, abgerufen am 19.05.2024.