render Kummer, ihre zärtliche Verzweiflung hat nicht freyes Spiel genug.
Und diesen Veränderungen zu Folge, kann man sich den Maffeischen Plan ungefehr vorstellen. Polyphon- tes regieret bereits funfzehn Jahre, und doch fühlet er sich auf dem Throne noch nicht befestiget genug. Denn das Volk ist noch immer dem Hause seines vorigen Kö- niges zugethan, und rechnet auf den letzten geretteten Zweig desselben. Die Mißvergnügten zu beruhigen, fällt ihm ein, sich mit Meropen zu verbinden. Er trägt ihr seine Hand an, unter dem Vorwande einer wirkli- chen Liebe. Doch Merope weiset ihn mit diesem Vor- wande zu empfindlich ab; und nun sucht er durch Dro- hungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn seine Ver- stellung nicht verhelfen können. Eben dringt er am schärfesten in sie; als ein Jüngling vor ihn gebracht wird, den man auf der Landstraße über einem Morde ergriffen hat. Aegisth, so nannte sich der Jüngling, hatte nichts gethan, als sein eignes Leben gegen einen Räu- ber vertheidiget; sein Ansehen verräth so viel Adel und Unschuld, seine Rede so viel Wahrheit, daß Merope, die noch ausserdem eine gewisse Falte seines Mundes be- merkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den König für ihn zu bitten; und der König be- gnadiget ihn. Doch gleich darauf vermißt Merope ih- ren jüngsten Sohn, den sie einem alten Diener, Na- mens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als sein eige- nes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er für sei- nen Vater hält, heimlich verlassen, um die Welt zu se- hen; aber er ist nirgends wieder aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmste; auf der Landstraße ist jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn gewesen wäre? So denkt sie, und wird in ihrer bangen Vermuthung durch verschiedene Umstände, durch die Bereitwilligkeit des Königs, den Mörder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einen
Ring
render Kummer, ihre zaͤrtliche Verzweiflung hat nicht freyes Spiel genug.
Und dieſen Veraͤnderungen zu Folge, kann man ſich den Maffeiſchen Plan ungefehr vorſtellen. Polyphon- tes regieret bereits funfzehn Jahre, und doch fuͤhlet er ſich auf dem Throne noch nicht befeſtiget genug. Denn das Volk iſt noch immer dem Hauſe ſeines vorigen Koͤ- niges zugethan, und rechnet auf den letzten geretteten Zweig deſſelben. Die Mißvergnuͤgten zu beruhigen, faͤllt ihm ein, ſich mit Meropen zu verbinden. Er traͤgt ihr ſeine Hand an, unter dem Vorwande einer wirkli- chen Liebe. Doch Merope weiſet ihn mit dieſem Vor- wande zu empfindlich ab; und nun ſucht er durch Dro- hungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn ſeine Ver- ſtellung nicht verhelfen koͤnnen. Eben dringt er am ſchaͤrfeſten in ſie; als ein Juͤngling vor ihn gebracht wird, den man auf der Landſtraße uͤber einem Morde ergriffen hat. Aegisth, ſo nañte ſich der Juͤngling, hatte nichts gethan, als ſein eignes Leben gegen einen Raͤu- ber vertheidiget; ſein Anſehen verraͤth ſo viel Adel und Unſchuld, ſeine Rede ſo viel Wahrheit, daß Merope, die noch auſſerdem eine gewiſſe Falte ſeines Mundes be- merkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den Koͤnig fuͤr ihn zu bitten; und der Koͤnig be- gnadiget ihn. Doch gleich darauf vermißt Merope ih- ren juͤngſten Sohn, den ſie einem alten Diener, Na- mens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als ſein eige- nes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er fuͤr ſei- nen Vater haͤlt, heimlich verlaſſen, um die Welt zu ſe- hen; aber er iſt nirgends wieder aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmſte; auf der Landſtraße iſt jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn geweſen waͤre? So denkt ſie, und wird in ihrer bangen Vermuthung durch verſchiedene Umſtaͤnde, durch die Bereitwilligkeit des Koͤnigs, den Moͤrder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einen
Ring
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render Kummer, ihre zaͤrtliche Verzweiflung hat
nicht freyes Spiel genug.
Und dieſen Veraͤnderungen zu Folge, kann man ſich
den Maffeiſchen Plan ungefehr vorſtellen. Polyphon-
tes regieret bereits funfzehn Jahre, und doch fuͤhlet er
ſich auf dem Throne noch nicht befeſtiget genug. Denn
das Volk iſt noch immer dem Hauſe ſeines vorigen Koͤ-
niges zugethan, und rechnet auf den letzten geretteten
Zweig deſſelben. Die Mißvergnuͤgten zu beruhigen,
faͤllt ihm ein, ſich mit Meropen zu verbinden. Er traͤgt
ihr ſeine Hand an, unter dem Vorwande einer wirkli-
chen Liebe. Doch Merope weiſet ihn mit dieſem Vor-
wande zu empfindlich ab; und nun ſucht er durch Dro-
hungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn ſeine Ver-
ſtellung nicht verhelfen koͤnnen. Eben dringt er am
ſchaͤrfeſten in ſie; als ein Juͤngling vor ihn gebracht
wird, den man auf der Landſtraße uͤber einem Morde
ergriffen hat. Aegisth, ſo nañte ſich der Juͤngling, hatte
nichts gethan, als ſein eignes Leben gegen einen Raͤu-
ber vertheidiget; ſein Anſehen verraͤth ſo viel Adel und
Unſchuld, ſeine Rede ſo viel Wahrheit, daß Merope,
die noch auſſerdem eine gewiſſe Falte ſeines Mundes be-
merkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen
wird, den Koͤnig fuͤr ihn zu bitten; und der Koͤnig be-
gnadiget ihn. Doch gleich darauf vermißt Merope ih-
ren juͤngſten Sohn, den ſie einem alten Diener, Na-
mens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls
anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als ſein eige-
nes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er fuͤr ſei-
nen Vater haͤlt, heimlich verlaſſen, um die Welt zu ſe-
hen; aber er iſt nirgends wieder aufzufinden. Dem
Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmſte;
auf der Landſtraße iſt jemand ermordet worden; wie,
wenn es ihr Sohn geweſen waͤre? So denkt ſie, und
wird in ihrer bangen Vermuthung durch verſchiedene
Umſtaͤnde, durch die Bereitwilligkeit des Koͤnigs, den
Moͤrder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einen
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/333>, abgerufen am 25.11.2024.
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