men zusprach, ward verändert; welches beson- ders die Umstände von Meropens zweyter Ver- heyrathung und von des Sohnes auswärtiger Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht die Gemahlinn des Polyphonts seyn; denn es schien dem Dichter mit der Gewissenhaftigkeit einer so frommen Mutter zu streiten, sich den Umarmungen eines zweyten Mannes überlassen zu haben, in dem sie den Mörder ihres ersten kannte, und dessen eigene Erhaltung es erfor- derte, sich durchaus von allen, welche nähere Ansprüche auf den Thron haben könnten, zu be- freyen. Der Sohn mußte nicht bey einem vor- nehmen Gastfreunde seines väterlichen Hauses, in aller Sicherheit und Gemächlichkeit, in der völligen Kenntniß seines Standes und seiner Bestimmung, erzogen seyn: denn die mütterliche Liebe erkaltet natürlicher Weise, wenn sie nicht durch die beständigen Vorstellungen des Unge- machs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abwesender Gegenstand gerathen kann, ge- reitzet und angestrenget wird. Er mußte nicht in der ausdrücklichen Absicht kommen, sich an dem Tyrannen zu rächen; er muß nicht von Me- ropen für den Mörder ihres Sohnes gehalten werden, weil er sich selbst dafür ausgiebt, son- dern weil eine gewisse Verbindung von Zufällen diesen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er seine Mutter, so ist ihre Verlegenheit bey der ersten mündlichen Erklärung aus, und ihr rüh-
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men zuſprach, ward veraͤndert; welches beſon- ders die Umſtaͤnde von Meropens zweyter Ver- heyrathung und von des Sohnes auswaͤrtiger Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht die Gemahlinn des Polyphonts ſeyn; denn es ſchien dem Dichter mit der Gewiſſenhaftigkeit einer ſo frommen Mutter zu ſtreiten, ſich den Umarmungen eines zweyten Mannes uͤberlaſſen zu haben, in dem ſie den Moͤrder ihres erſten kannte, und deſſen eigene Erhaltung es erfor- derte, ſich durchaus von allen, welche naͤhere Anſpruͤche auf den Thron haben koͤnnten, zu be- freyen. Der Sohn mußte nicht bey einem vor- nehmen Gaſtfreunde ſeines vaͤterlichen Hauſes, in aller Sicherheit und Gemaͤchlichkeit, in der voͤlligen Kenntniß ſeines Standes und ſeiner Beſtimmung, erzogen ſeyn: denn die muͤtterliche Liebe erkaltet natuͤrlicher Weiſe, wenn ſie nicht durch die beſtaͤndigen Vorſtellungen des Unge- machs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abweſender Gegenſtand gerathen kann, ge- reitzet und angeſtrenget wird. Er mußte nicht in der ausdruͤcklichen Abſicht kommen, ſich an dem Tyrannen zu raͤchen; er muß nicht von Me- ropen fuͤr den Moͤrder ihres Sohnes gehalten werden, weil er ſich ſelbſt dafuͤr ausgiebt, ſon- dern weil eine gewiſſe Verbindung von Zufaͤllen dieſen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er ſeine Mutter, ſo iſt ihre Verlegenheit bey der erſten muͤndlichen Erklaͤrung aus, und ihr ruͤh-
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men zuſprach, ward veraͤndert; welches beſon-
ders die Umſtaͤnde von Meropens zweyter Ver-
heyrathung und von des Sohnes auswaͤrtiger
Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht
die Gemahlinn des Polyphonts ſeyn; denn es
ſchien dem Dichter mit der Gewiſſenhaftigkeit
einer ſo frommen Mutter zu ſtreiten, ſich den
Umarmungen eines zweyten Mannes uͤberlaſſen
zu haben, in dem ſie den Moͤrder ihres erſten
kannte, und deſſen eigene Erhaltung es erfor-
derte, ſich durchaus von allen, welche naͤhere
Anſpruͤche auf den Thron haben koͤnnten, zu be-
freyen. Der Sohn mußte nicht bey einem vor-
nehmen Gaſtfreunde ſeines vaͤterlichen Hauſes,
in aller Sicherheit und Gemaͤchlichkeit, in der
voͤlligen Kenntniß ſeines Standes und ſeiner
Beſtimmung, erzogen ſeyn: denn die muͤtterliche
Liebe erkaltet natuͤrlicher Weiſe, wenn ſie nicht
durch die beſtaͤndigen Vorſtellungen des Unge-
machs, der immer neuen Gefahren, in welche
ihr abweſender Gegenſtand gerathen kann, ge-
reitzet und angeſtrenget wird. Er mußte nicht
in der ausdruͤcklichen Abſicht kommen, ſich an
dem Tyrannen zu raͤchen; er muß nicht von Me-
ropen fuͤr den Moͤrder ihres Sohnes gehalten
werden, weil er ſich ſelbſt dafuͤr ausgiebt, ſon-
dern weil eine gewiſſe Verbindung von Zufaͤllen
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erſten muͤndlichen Erklaͤrung aus, und ihr ruͤh-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/332>, abgerufen am 22.11.2024.
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