Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

rathe allen, die unter uns das Theater aus ähn-
lichen Erzehlungen bereichern wollen, die Fa-
vartsche Ausführung mit dem Marmontelschen
Urstoffe zusammen zu halten. Wenn sie die
Gabe zu abstrahiren haben, so werden ihnen die
geringsten Veränderungen, die dieser gelitten,
und zum Theil leiden müssen, lehrreich seyn,
und ihre Empfindung wird sie auf manchen
Handgriff leiten, der ihrer bloßen Spekulation
wohl unentdeckt geblieben wäre, den noch kein
Kritikus zur Regel generalisiret hat, ob er es
schon verdiente, und der öfters mehr Wahrheit,
mehr Leben in ihr Stück bringen wird, als alle
die mechanischen Gesetze, mit denen sich kahle
Kunstrichter herumschlagen, und deren Beobach-
tung sie lieber, dem Genie zum Trotze, zur ein-
zigen Quelle der Vollkommenheit eines Drama
machen möchten.

Ich will nur bey einer von diesen Verände-
rungen stehen bleiben. Aber ich muß vorher
das Urtheil anführen, welches Franzosen selbst
über das Stück gefällt haben. (*) Anfangs
äußern sie ihre Zweifel gegen die Grundlage des
Marmontels. "Solimann der Zweyte, sagen
sie, war einer von den größten Fürsten seines
Jahrhunderts; die Türken haben keinen Kaiser,
dessen Andenken ihnen theurer wäre, als dieses
Solimanns; seine Siege, seine Talente und

Tu-
(*) Journal Encyclop. Janvier 1762.

rathe allen, die unter uns das Theater aus aͤhn-
lichen Erzehlungen bereichern wollen, die Fa-
vartſche Ausfuͤhrung mit dem Marmontelſchen
Urſtoffe zuſammen zu halten. Wenn ſie die
Gabe zu abſtrahiren haben, ſo werden ihnen die
geringſten Veraͤnderungen, die dieſer gelitten,
und zum Theil leiden muͤſſen, lehrreich ſeyn,
und ihre Empfindung wird ſie auf manchen
Handgriff leiten, der ihrer bloßen Spekulation
wohl unentdeckt geblieben waͤre, den noch kein
Kritikus zur Regel generaliſiret hat, ob er es
ſchon verdiente, und der oͤfters mehr Wahrheit,
mehr Leben in ihr Stuͤck bringen wird, als alle
die mechaniſchen Geſetze, mit denen ſich kahle
Kunſtrichter herumſchlagen, und deren Beobach-
tung ſie lieber, dem Genie zum Trotze, zur ein-
zigen Quelle der Vollkommenheit eines Drama
machen moͤchten.

Ich will nur bey einer von dieſen Veraͤnde-
rungen ſtehen bleiben. Aber ich muß vorher
das Urtheil anfuͤhren, welches Franzoſen ſelbſt
uͤber das Stuͤck gefaͤllt haben. (*) Anfangs
aͤußern ſie ihre Zweifel gegen die Grundlage des
Marmontels. 〟Solimann der Zweyte, ſagen
ſie, war einer von den groͤßten Fuͤrſten ſeines
Jahrhunderts; die Tuͤrken haben keinen Kaiſer,
deſſen Andenken ihnen theurer waͤre, als dieſes
Solimanns; ſeine Siege, ſeine Talente und

Tu-
(*) Journal Encyclop. Janvier 1762.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0276" n="262"/>
rathe allen, die unter uns das Theater aus a&#x0364;hn-<lb/>
lichen Erzehlungen bereichern wollen, die Fa-<lb/>
vart&#x017F;che Ausfu&#x0364;hrung mit dem Marmontel&#x017F;chen<lb/>
Ur&#x017F;toffe zu&#x017F;ammen zu halten. Wenn &#x017F;ie die<lb/>
Gabe zu ab&#x017F;trahiren haben, &#x017F;o werden ihnen die<lb/>
gering&#x017F;ten Vera&#x0364;nderungen, die die&#x017F;er gelitten,<lb/>
und zum Theil leiden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, lehrreich &#x017F;eyn,<lb/>
und ihre Empfindung wird &#x017F;ie auf manchen<lb/>
Handgriff leiten, der ihrer bloßen Spekulation<lb/>
wohl unentdeckt geblieben wa&#x0364;re, den noch kein<lb/>
Kritikus zur Regel generali&#x017F;iret hat, ob er es<lb/>
&#x017F;chon verdiente, und der o&#x0364;fters mehr Wahrheit,<lb/>
mehr Leben in ihr Stu&#x0364;ck bringen wird, als alle<lb/>
die mechani&#x017F;chen Ge&#x017F;etze, mit denen &#x017F;ich kahle<lb/>
Kun&#x017F;trichter herum&#x017F;chlagen, und deren Beobach-<lb/>
tung &#x017F;ie lieber, dem Genie zum Trotze, zur ein-<lb/>
zigen Quelle der Vollkommenheit eines Drama<lb/>
machen mo&#x0364;chten.</p><lb/>
        <p>Ich will nur bey einer von die&#x017F;en Vera&#x0364;nde-<lb/>
rungen &#x017F;tehen bleiben. Aber ich muß vorher<lb/>
das Urtheil anfu&#x0364;hren, welches Franzo&#x017F;en &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
u&#x0364;ber das Stu&#x0364;ck gefa&#x0364;llt haben. <note place="foot" n="(*)"><hi rendition="#aq">Journal Encyclop. Janvier</hi> 1762.</note> Anfangs<lb/>
a&#x0364;ußern &#x017F;ie ihre Zweifel gegen die Grundlage des<lb/>
Marmontels. <cit><quote>&#x301F;Solimann der Zweyte,</quote></cit> &#x017F;agen<lb/>
&#x017F;ie, <cit><quote>war einer von den gro&#x0364;ßten Fu&#x0364;r&#x017F;ten &#x017F;eines<lb/>
Jahrhunderts; die Tu&#x0364;rken haben keinen Kai&#x017F;er,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Andenken ihnen theurer wa&#x0364;re, als die&#x017F;es<lb/>
Solimanns; &#x017F;eine Siege, &#x017F;eine Talente und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Tu-</fw><lb/></quote></cit></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[262/0276] rathe allen, die unter uns das Theater aus aͤhn- lichen Erzehlungen bereichern wollen, die Fa- vartſche Ausfuͤhrung mit dem Marmontelſchen Urſtoffe zuſammen zu halten. Wenn ſie die Gabe zu abſtrahiren haben, ſo werden ihnen die geringſten Veraͤnderungen, die dieſer gelitten, und zum Theil leiden muͤſſen, lehrreich ſeyn, und ihre Empfindung wird ſie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer bloßen Spekulation wohl unentdeckt geblieben waͤre, den noch kein Kritikus zur Regel generaliſiret hat, ob er es ſchon verdiente, und der oͤfters mehr Wahrheit, mehr Leben in ihr Stuͤck bringen wird, als alle die mechaniſchen Geſetze, mit denen ſich kahle Kunſtrichter herumſchlagen, und deren Beobach- tung ſie lieber, dem Genie zum Trotze, zur ein- zigen Quelle der Vollkommenheit eines Drama machen moͤchten. Ich will nur bey einer von dieſen Veraͤnde- rungen ſtehen bleiben. Aber ich muß vorher das Urtheil anfuͤhren, welches Franzoſen ſelbſt uͤber das Stuͤck gefaͤllt haben. (*) Anfangs aͤußern ſie ihre Zweifel gegen die Grundlage des Marmontels. 〟Solimann der Zweyte, ſagen ſie, war einer von den groͤßten Fuͤrſten ſeines Jahrhunderts; die Tuͤrken haben keinen Kaiſer, deſſen Andenken ihnen theurer waͤre, als dieſes Solimanns; ſeine Siege, ſeine Talente und Tu- (*) Journal Encyclop. Janvier 1762.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/276
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/276>, abgerufen am 25.11.2024.